: Klitschkos infantile Angst
Psychoanalytiker Christian Schneider hat das Video von Boxprofi Wladimir Klitschkos jüngstem K. o. ausgewertet
Die Begründungen, die Manager und Trainer für Wladimir Klitschkos jüngste K. o.-Niederlage im Schwergewichts-WM-Fight (WBO) gegen Lamon Brewster gefunden haben, fallen naturgemäß vorsichtig aus. Klitschko habe „overpaced“, zu viel Energie verausgabt. Das mag erklären, warum der jüngere Klitschko Sonntag früh in Las Vegas Mitte der 5. Runde wirkte, als habe ihm jemand den Stecker herausgezogen. Es erklärt jedoch nicht wirklich das Drama.
Das Vorspiel dazu war in der allerersten Szene des Kampfes gestaltet: Der nicht gerade brillante Fighter Brewster startet einen überfallartigen Angriff – und Klitschko reagiert wie ein kleiner Junge, der auf der Straße verprügelt wird: er verfällt in ein „unboxerisches“, panisches Bewegungsschema, das unbezähmbare Angst signalisiert. Nach der Schrecksekunde dominiert er dann scheinbar souverän den Kampf. Aber er hat Brewster die Lücke in seiner Abwehr gezeigt – die kreatürliche Angstreaktion, die ihm ein Bewegungsschema aufzwingt, welches das antrainierte Defensivverhalten außer Kraft setzt. Muhammad Ali hat in seiner Autobiografie detailliert die Welt des „Halbtraums“ beschrieben, in die ein angeschlagener Boxer eintritt. Die Frage, was der Körper in der Ausnahmesituation jenseits der in 1.000 Trainingsstunden eingeübten Taktik quasi-automatisch tut, entscheidet darüber, ob es dem Kämpfer gelingt, noch einmal aus dem Halbtraum herauszufinden. In Situationen wie diesen sind basale psychische Regulationen im Spiel, in denen sich binnen Sekunden die ganze persönliche Geschichte des Umgangs mit Angst verdichtet. In dieser Angstwelt prallen Anforderungen zweier unterschiedlicher Realitätsbereiche aufeinander, vermengen sich archaische Körperbilder mit Erlerntem, Willenspartikel mit dem Wunsch, den Schmerz, den Schreck zu derealisieren. Es geht um instinktuelle Verhaltensschemata.
Die entscheidende Sequenz des Kampfes: 50 Sekunden vor Schluss der 5. Runde reagiert Klitschko auf eine kaum sonderlich harte Linke Brewsters mit einer linkischen Bewegung. Auf Brewster wirkt das Angstsignal wie ein Schlüsselreiz – und Klitschko verfällt in jenes „unprofessionelle“, der Kindheit und nicht dem „Gym“ entstammende Flucht- und Bewegungsschema, das ihn leicht treffbar macht. Er wird verprügelt. Ähnliches war schon bei der Niederlage gegen Corey Sanders zu studieren. Ein genauer Beobachter wie der wunderbare Profiboxer Roy Jones hat Klitschko sofort zum Aufhören geraten. Er weiß, dass der Fighter damit psychisch zerbrochen ist. Er hat Recht: Wladimir Klitschko wird die unbewusste Angstregulation nicht in den Griff bekommen. Er sollte seine Karriere beenden.
CHRISTIAN SCHNEIDER