: „Der Anti-Agenda-2010-Protest ist keine neue soziale Bewegung“, sagt Dieter Rucht
Die Gewerkschaften rebellieren gegen den Sozialabbau – bislang allerdings mit angezogener Handbremse
taz: Vor zwei Wochen haben 500.000 gegen Sozialabbau protestiert. Welches Antlitz hat diese Bewegung? Wer ist der typische Anti-Agenda-2010-Demonstrant?
Dieter Rucht: Es gibt nicht „den Typus“ – aber offenkundig waren die gewerkschaftlich Organisierten in der Mehrheit. Etwa drei Viertel gehörten zu den Gewerkschaften; das andere Viertel repräsentierte ein enorm weites Spektrum. Das reichte von Linksradikalen, die nur mit größten Bauchschmerzen zusammen mit dem DGB demonstriert haben, über SPD-Linke, PDS, linke Grüne bis hinein ins christliche Lager.
Ist das eine neue soziale Bewegung? Oder ein Auslaufmodell – etwa die letzten Zuckungen des Gewerkschaftsmilieus?
Es ist keine neue soziale Bewegung, weil es keine kollektive Identität gibt, kein umfassendes Ziel, das für dieses Gemenge von verschiedensten Gruppen eine Einheit stiften würde. Da haben entwicklungspolitische Gruppen, die Gewerkschaften, Attac und andere demonstriert. Die Leute verstehen sich als Mitglieder dieser Organisationen, die an diesem Tag gemeinsam protestiert haben – nicht mehr und nicht weniger. Insofern haben wir es weniger mit neuen sozialen Bewegungen zu tun als mit einer politische Kampagne, einer taktischen Allianz mit einem begrenzten Ziel.
Das ist der Unterschied zur Friedens- oder Ökobewegung der 80er-Jahre?
Ja, das waren kompaktere Bewegungen.
Die Anti-Agenda-2010-Bewegung hat das Ziel, dass es bleiben soll, wie es ist. Ist das nicht ein Paradox – eine Kampagne oder Bewegung, die strukturkonservativ den Status quo verteidigen will?
Es ist in der Tat eine defensive Bewegung. Sie hat keine Vision. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist es, das gegenwärtige Niveau des Sozialstaates zu bewahren. Das ist keine mitreißende, zündende Parole. Man steht mit dem Rücken zur Wand – und hat außerdem mit der rot-grünen Regierung einen Widerpart, der, grob gesagt, ja zum eigenen Lager gehört. Deshalb ist es ein Protest mit leicht angezogener Handbremse.
Es gibt also keine schroffe Konfrontation zwischen Anti-Agenda-2010-Bewegung und Regierung, sondern eine komplexeres Verhältnis zwischen Demonstranten und Kanzleramt?
Ja. Man kritisiert Rot-Grün sehr heftig – aber man treibt die Kritik nicht bis zur völligen Delegitimierung der Regierung. Denn dann würde man ja das Geschäft der Konservativen betreiben. Und das will man nicht, weil Demonstranten und Regierung trotz allem Dissens einen gemeinsamen Gegner haben: die politische Rechte. Andererseits ist ein Fakt, dass sich Gewerkschaften und SPD derzeit voneinander entfernen. Die SPD muss unter dem Druck der Konservativen Sparpolitik machen. Ich teile nicht die Auffassung, diese Politik müsse so aussehen – aber das ist die herrschende Wahrnehmung in der SPD. Deshalb heißt die rot-grüne Devise: Die Agenda 2010 wird durchgesetzt. Die Gewerkschaften können das natürlich nicht akzeptieren. Das wäre Verrat an der eigenen Klientel.
Es ist also ein Rollenspiel?
Es gibt bei Regierung und Gewerkschaften durchaus Verständnis für die Lage des anderen. Das ist kein augenzwinkerndes Einvernehmen – so weit geht es nicht. Aber beide Seiten wissen, dass dies, trotz aller Konflikte, kein definitiver Bruch ist.
Insofern ist es auch ausgeschlossen, dass diese Kampagne der Kern einer neuen Partei wird – so wie die Ökopaxbewegung die Grünen vorbereitet haben?
Ja. Wenn eine neue linke Partei gegründet werden sollte, wird ihre Chance minimal sein. Und zwar nicht weil, wie viele meinen, dies Beispiele aus der Vergangenheit lehren, sondern weil die linke Seite des Parteienspektrums derzeit so gut besetzt ist. Es gibt den linken Flügel der SPD, es gibt die PDS, die Grünen, die im Kern noch immer etwas links von der SPD stehen, und einige linke Splittergruppen. Da ist kaum Raum für einen neuen strategischen Ansatz.
Glauben Sie, dass die Anti-Agenda-2010-Bewegung künftig über das eigene, vornehmlich gewerkschaftliche Milieu Strahlkraft entwickeln wird?
Zur sozialen Bewegung fehlt, wie gesagt, die Vision, wie die Gesellschaft aussehen soll. Davon ist bei den Gewerkschaften wenig zu sehen. Sie verteidigen soziale Errungenschaften. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. Den gesellschaftlichen Entwurf, die Vision, reklamiert Attac für sich. Aber auch da ist viel vage und widersprüchlich.
Warum?
Zum Beispiel die Frage der Zölle. Die US-Gewerkschaften und auch viele Globalisierungskritiker fordern im Grunde Schutzzölle gegen den Süden, zugleich will die globalisierungskritische Bewegung, dass die kapitalistischen Kernländer ihre Märkte für die Exporte aus Südländern öffnen. Diese Widersprüche sind völlig ungelöst.
DGB-Chef Sommer hat anhaltenden Widerstand angekündigt. Wird es also weitere, ähnlich große Demos geben?
Das ist eher unwahrscheinlich. Mit einer halben Million liegt die Latte ja sehr hoch. Wenn demnächst 300.000 kommen, wird es in der Öffentlichkeit heißen: Aha, der Widerstand flaut ab. Das wissen die Organisatoren. Deshalb werden sie sehr vorsichtig sein. INTERVIEW: STEFAN REINECKE