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Archiv-Artikel

Noch mehr Schlüssellöcher

Soft-Pornos, Hardcore-Pornos, Nazi-Pornos, echte, erinnerte, nachträglich etikettierte: Die neueste und wieder einmal dankbar diskutierte Episode in der Debatte um Thor Kunkels Roman „Endstufe“

Als Thor Kunkels Roman „Endstufe“ Ende März erschien, machte sich Erleichterung breit: Endlich hatte es ein Ende mit den zum Teil irrlichternden Spekulationen nach dem Kunkel-Rauswurf bei Rowohlt; endlich konnte man dieses blöd skandalumwitterte Buch lesen und besprechen; endlich konnte man die Säge rausholen oder das grelle Licht wieder runterdimmen.

So geschah es dann auch: Schneller als sonst nur echte Bücher der Saison, wie, sagen wir, Jeffrey Eugenides’ „Middlesex“ oder Christoph Heins „Landnahme“, wurde Kunkels Roman innerhalb einer Woche in den Wichtigfeuilletons besprochen. Hübsch zu sehen dabei, wie Tag für Tag ein Feuilleton auf das andere Bezug nahm, wie sich „kein Skandal“ mit „doch ein Skandal“ abwechselte, wie Geschmacksfragen geklärt wurden, und auch, wie die SZ mal wieder ihren Wadenbeißer von der Kette ließ, der sich nicht nur Kunkels Buch gehörig vornahm, sondern noch gehöriger „die blauäugigen, nützlichen Idioten des Betriebs“, der also Literaturkritik (mal wieder) mit ordentlicher Kollegenschelte vermengte (und all das unter der von Kunkel entlehnten Überschrift „Sieg Geil“: Auch dieser Text sollte ja seinen würdigen Blickfang bekommen und gelesen werden).

Sein Fett jedenfalls bekam Kunkel richtigerweise vor allem dort weg, wo er offen oder einfach nachlässig zumindest den Stallgeruch des Revisionismus verbreitete, wo sein trashiger Nazi-Roman zum finsteren Opfergesang wird. Und damit hätte es sein Bewenden haben können. Damit hätte man Kunkel als ungeschickt provokanten Irrläufer einer plötzlich gewendeten deutschen Erinnerungskultur sehen und sich noch intensiver mit genau dieser Erinnerungskultur befassen können.

Doch Pustekuchen – da ist schließlich noch die Sache mit den Pornos, die aufrecht stehende Kulturjournalisten einfach nicht ruhen lassen kann. So hat also diese Woche der Fernsehjournalist Tilman Jens „enthüllt“, dass die besagten und von Kunkel als Grundlage für seinen Roman dienenden Pornos gar nicht aus den Vierziger-, sondern aus den Fünfzigerjahren stammen – vermeintlicher Gewährsmann war der Kinobetreiber, Produzent und Sammler Werner Graßmann. Dieser hatte Anfang der Siebzigerjahre in seinem Abaton-Kino eine Reihe namens „Erotik im Untergrund“ gezeigt, darunter angeblich auch Kunkels „Sachsenwald-Filme“. Nun gibt es aber mehrere Pornos in diesem Spiel: Graßmanns Filme stammen nicht aus den Vierzigerjahren, sind in seiner Reihe aber nachträglich der Werbung halber als Nazifilme etikettiert worden. Im Folgenden treten in dieser neuen Kunkel-Episode auf: der Experimentalfilmer Werner Nekes, der mit Kunkel wiederum zwei ganz andere Filme geguckt hat, ältere Herren, die sich an die Existenz von Nazipornos zumindest erinnern können, ältere Damen, die noch wissen, in den Vierzigerjahren darin mitgespielt zu haben. Softpornos, Hardcorepornos, Nazipornos, echte, erinnerte, nachträglich als solche etikettierte – wer hier den schärfsten Blick durchs Schlüsselloch werfen will, muss sich schon anstrengen und detektivische Kleinarbeit leisten.

Komisch nur, dass sich bislang zu den Nazifilmen noch kein einziger Historiker zu Wort gemeldet hat – entweder lesen die noch, oder die Nazipornos liefern tatsächlich keinen neuen Blick aufs Dritte Reich. Sie sind nicht mehr als eine zu vernachlässigende Marginalie. Und blöd nur, dass Kunkel seine „Dritte-Reichs-Phänomen-Erklärung“ und seinen naiven Versuch, den Fortgang der swingenden Zwanzigerjahre zumindest unter der „jungen Naziprominenz“ zu beschreiben, ausgerechnet auf Pornos fußen lässt – das riecht schlecht, das wirkt bieder. Mag er aber in Sachen Pornos korrekt recherchiert haben, so wiegen tatsächliche Fehler viel schlimmer: So ist etwa der von ihm zitierte propagandistische Handzettel des russischen Dichters Ilja Ehrenburg, in dem dieser dazu aufruft, die „germanische Frau als rechtmäßige Beute zu nehmen“, von wissenschaftlicher Seite längst als Fälschung der Nazis enttarnt worden. Für Kunkel dient er aber dazu, verbal so richtig loszulegen in Bezug auf die Vergewaltigung deutscher Frauen durch russische Soldaten.

Nun riecht die Pornogeschichte aber nicht so schlecht, und ist sie noch immer nicht spießig genug, als dass sie nicht die hiesige Kulturöffentlichkeit auf ein Neues so richtig elektrisieren könnte. Da muss Aufklärung geleistet werden! Und da legitimiert man sich nebenbei gleich mit. Nur scheint es, als sei die Debatte um Kunkels Buch mit der Jens-„Enthüllung“ wieder zurück auf den Stand von vor der Buchveröffentlichung bei Eichborn geworfen worden. Nazis! Pornos! Erregung! Noch mehr Erregung – und danach: die große Leere.

GERRIT BARTELS