MICHAL LARCHER über Navigationsstörungen

Orientierungsloses Berlin

Chaos, Orientierungslosigkeit, Zukunftsdebatten. Auf diesen Nenner lässt sich in Berlin und Ostdeutschland der gestrige Ausfall eines Satelliten des Navigationssystems Galileo bringen. Über die Ursachen des Ausfalls herrscht indes weiter Unklarheit.

Das Verkehrschaos begann gestern Morgen. Innerhalb von wenigen Minuten blieben die Autos in Berlin und Ostdeutschland stehen. „Der Verkehr brach nicht zusammen, er stand still“, sagte Nüsel Nurekin vom ADAC-Ostdeutschland. „Die Fahrer saßen in ihren Autokabinen vor schwarzen Monitoren, Galileo war ein Totalausfall.“

Der Grund, warum dieser Totalausfall vor allem Ostdeutschland traf: Seit sieben Monaten ist die Region Modellregion der Prager EU-Kommission für zukunftsträchtige Mobilitätskonzepte. Unter dem Motto „Autonavigation“ wird erstmals erprobt, ob sich der individuelle motorisierte Nahverkehr vollständig über die Satelliten von Galileo leiten lässt. „Man muss nur eingeben, wohin man will, und kann es sich im Auto gemütlich machen oder arbeiten“, pries EU-Mobilitätskommissar Jorge Jorges zu Projektbeginn das Vorhaben. Vor dem Hintergrund des dramatischen Bevölkerungsschwunds, so Jorges, wäre Autonavigation die Alternative zu den überalterten und unbeliebten U- und S-Bahnen. „Wir verbinden individuelle Mobilität mit der Zusage, auf dem schnellsten Weg und ohne Staus ans Ziel zu kommen.“

Davon konnte gestern keine Rede sein. Umso mehr schossen die Spekulationen ins Kraut, wer oder was für den Ausfall des Satelliten verantwortlich sein könnte. Entschieden schloss die EU-Kommission einen Anschlag islamistischer Terroristen auf einen der 27 Galileo-Satelliten aus. Unklar blieb aber auch, warum die User nicht auf das russisch-amerikanische System GPS zurückgreifen konnten. In Prag wollte gestern niemand die Ungereimtheiten kommentieren.

In Berlin hieß es unterdessen, es sei auch nicht auszuschließen, dass das Chaos auf einen Softwarefehler der Firma „Datacross“ zurückzuführen sei, die die Federführung im Modellversuch „Autonavigation“ übernommen hat. Es wäre nicht das erste Missgeschick von Data-Cross. Bereits im Jahre 2013 hat die Firma, die aus der Konkursmasse der Firma Toll Collect entstanden ist, für Aufregung gesorgt. Damals fiel das Erkennungssystem der Iris-Scanner in Berliner Behörden und Kaufhäusern aus.

Auch gestern waren es nicht nur die Autofahrer, sondern auch die Fußgänger, die ohne die automatische Navigation auskommen mussten. Der ausgefallene Satellit steuerte nämlich nicht nur „Autonavigation“, sondern auch das individuelle Positioning-System in der Region. Vor allem am Potsdamer Platz und rund um den Alpen-Themenpark in Brand konnte man sehen, wie vor allem Touristen ratlos auf ihre Handhelds schauten. Keiner wusste mehr, wo er war.

Die ostdeutsche Infrastruktursenatorin Anja Sprogies sagte, die Menschen hätten plötzlich auf alte Navigationssysteme zurückgreifen müssen, die es aber nicht mehr in ausreichender Menge gab. So waren die Speicherchips mit digitalen City-Maps in kürzester Zeit ausverkauft, vor den Gebäuden mit Videoscreens bildeten sich lange Schlangen.

Unterdessen gehörte Berlin gestern den Einheimischen. Sofern sie nicht mit dem Auto unterwegs waren, genossen sie einen Spaziergang im Tiergarten oder einen Bummel über die Friedrichstraße. „Das Imperium schlägt zurück“, sagte ein Mann mit spitzbübischem Lachen und zog seinen gedruckten Stadtplan aus der Tasche. „Alte Friedensware“, lachte er.