: Alles hat seine eigene Zeit
Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt: Drei Monate ist Volker Gerling von Berlin nach Basel gewandert und hat am Wegesrand seine Daumenkinos vorgeführt. Dabei sind neue „Abblätterbücher“ entstanden, jetzt zu sehen bei Engler & Piper
VON TOBIAS HERING
Im Deutschen Technik Museum in Berlin hängt in der Abteilung Film- und Fototechnik eine kleine Lithografie, die einen wandernden Schausteller zeigt, der mit einem „Guckkasten“ über Land zieht. Die meisten optischen Erfindungen hatten eine Karriere der Wanderschaft hinter sich, als sie zu fest installierten Münzgeräten wurden. Man könnte meinen, die Bilder hätten laufen gelernt, indem sie herumgetragen wurden. Neben Guckkasten, Camera obscura und „Veränderungsseher“ gilt dem Museum auch das Daumenkino oder „Abblätterbuch“ als schrulliges Zwischenspiel auf dem Weg von der Fotografie zum Film.
Wenn sich also jemand mit der Herstellung fotografischer Daumenkinos beschäftigt und von Berlin nach Basel läuft, um am Wegesrand seine Abblätterbücher zur Vorführung zu bringen, dann klingt das alles sehr gestrig und nach Retro. „Daumenkinographie“ (alte Rechtschreibung) nennt Volker Gerling, was er macht, und auch das erinnert an eine Zeit, als eine ganze Generation von Alchimisten, Mechanikern und Philosophen damit beschäftigt war, den bewegten Bildern einen Namen zu geben.
Drei Monate ist Volker Gerling letzten Sommer durch Deutschland gelaufen, vor sich einen Bauchladen mit einer Auswahl seiner Daumenkinos. Gelebt hat er von dem, was die Leute für eine Vorführung seiner Wanderausstellung zu geben bereit waren. Die Daumenkinos bestehen aus meist 36 Schwarz-Weiß-Abzügen, die am Falz durch eine Leinenbindung und zwei Messingschrauben zusammengehalten werden. Sie sind robust und handlich, und wenn man sie auf die Handfläche klatscht, gibt es einen satten Ton, als schlage man ein Buch zu.
Man legt den Daumen auf das oberste Blatt und biegt den Stapel ein wenig, dann verringert man den Druck auf der Fingerkuppe, und während der Daumen Bild für Bild freigibt, wird die Handfläche zu einer kleinen Projektionskammer.
Die meisten von Volker Gerlings Daumenkinos zeigen Porträts von Menschen. Eine Frau in einem Zug am Fenster, eine Romafamilie vor ihrem Haus, ein Mann mit einer Baseballmütze, auf der „Berlin“ steht. In der Regel wissen die Porträtierten nicht, dass die Kamera nicht nur einmal auslösen, sondern in 12 Sekunden einen ganzen Film verschießen wird.
Das Daumenkino hält deshalb den Moment fest, in dem die Pose zerfließt, die sich die Menschen für das Porträt zurechtgelegt haben. Die Miene verändert sich, eine unwillkürliche Geste gilt dem Fotografen, der Kamera, oder einer widerspenstigen Haarsträhne. Als späterer Betrachter wird man das Gefühl nicht los, dass die Gesten einem selber gelten, so nah kommen sie einem, der Hand, die hält, und der anderen, die blättert. Volker Gerling glaubt, dass die Menschen auf seinen Daumenkinos für eine Weile ganz bei sich sind, weil sie ihrer Eigenzeit folgen.
„Eigenzeit“ ist ein Begriff aus der Relativitätstheorie, und man könnte ihn so paraphrasieren, dass Zeit nicht etwas ist, dem man hinterherrennen muss, sondern etwas, was man hat. Dass Volker Gerling seine Reise zu Fuß unternommen hat, war weniger ein Abenteuer in Genügsamkeit als der Versuch, das Zeitgefühl der Daumenkinos mit dem Gehen zu verbinden.
Denn auch das Gehen ist eine Art, bei sich zu sein und seinem eigenen Rhythmus zu folgen. Man könnte sagen, dass einem beim Gehen die Zeit unter die Füße kommt.
Aus einigen der vielen Begegnungen der Wanderung sind neue Daumenkinos entstanden, die man sich nun in der Galerie Engler & Piper anschauen kann. Für einige kam der Fremde mit dem Bauchladen und der Kamera offenbar wie gerufen, etwa für Antonia aus Jena, die gerade auf dem Weg zu einer Freundin war, um sich ihre langen, blonden Haare abschneiden zu lassen. Volker Gerling ist mitgegangen, und das Daumenkino hält nun das Vorher und Nachher dieser Umwandlung fest und lässt uns an Antonias erstem Blick in den Spiegel teilhaben.
Eines der Daumenkinos zeigt zwei Jungen mit einer Angel an einem Flussufer. Es ist das minimalistischste Daumenkino der Ausstellung geworden. Ein lang gezogener Moment, als sähe man dasselbe Bild immer wieder.
Aber auch hier ist es, als wäre das Daumenkino ganz solidarisch mit den Porträtierten, denn es ist ein Daumenkino über die Geduld geworden. Ein Daumenkino über die Kunst, einen Fisch zu fangen, die wiederum der Kunst verwandt ist, ein Daumenkino zu fotografieren.
Vernissage heute, 19 Uhr. Die Ausstellung geht bis zum 17. Mai, Di.–Sa. 13–20 Uhr. Galerie Engler & Piper, Kastanienallee 67, Prenzlauer Berg