: „Der kann ja auch malen!“
von DIEDRICH DIEDERICHSEN
Als Martin Kippenberger 1997 starb, rechneten vor allem die, die ihn aus der Nähe kannten, nicht damit, dass sein „Werk“ ohne sein sonst so permanentes performatives Dazutun präsent bleiben würde wie zu Lebzeiten. Manch einer dachte, dass es nun endgültig vorbei sei mit jener Kunst, die noch charismatischen Personen und zentralisierenden Autoren zugeordnet werden könnte. Kippenberger, so der Gedanke, war vielleicht der letzte und darum auch so überdimensionale und hypostasierte Künstlerdinosaurier. Nach ihm gäbe es nur noch Service-Art und Projekt-orientierte Kunst, Workshops und Symposien.
Es ist aber ganz anders gekommen. Kurz vor und nach seinem Tod wurden seine letzten Projekte bekannt, und sie wiesen auf den ersten Blick in sehr verschiedene Richtungen. Die Spiderman-Arbeiten zeigten noch einmal den besten verschrobenen Kippenberger-Humor – vom Spott über die Künstlerfigur als Spinne in einem Studio-Netz bis zu dessen entschlossenen Dementis durch eine uneingeschränkte Produktivität. Das Metro-Net, das 1993 entworfen wurde, auf der documenta X zu sehen war und ab nächster Woche im deutschen Pavillon der Biennale in Venedig präsentiert wird, war nun noch so ein Netz. Kippenberger konnte an keinem Keyword der Zeit vorbeigehen, ohne es für seine Zwecke umzudrehen: groß abgedrehte Konzeptkunst, sein Beitrag zur Verflüchtigung des Kunstobjekts durch ein weltweit verbreitetes Netz von Zugängen zu einem imaginären Untergrund. Sympathisierende Parodie von Didaktik – Zugänge schaffen! – und Rebellion – Underground!
Schließlich überraschten das Publikum aber vor allem die Gemälde, Zeichnungen sowie die dazu von seiner Ehefrau Elfie Semotan fotografierten Rollenporträts zu und über Gericaults „Floß der Medusa“. Sie lösten schließlich diese neue und ganz andere Rezeption aus, mit der unmittelbar nach seinem Tod niemand gerechnet hat. Kippenberger hatte die Posen und Minen der unglücklichen Schiffbrüchigen selbst eingenommen, sich dabei fotografieren lassen und diese Fotos zur Grundlage von Zeichnungen und Gemälden gemacht, die gewaltig einschlugen. Zum einen war Kippenberger hier zum ersten Mal ohne jede Doppelbödigkeit ernst, zum anderen schien sich dieser Ernst gerade durch den biografischen Umstand, letzte Bilder zu sein, unfreiwillig zu verstärken. Obwohl viele Kippenberger nahestehende Personen dies immer bestritten, schien es dem Publikum, als hätte der Künstler auch ein Memento Mori in eigener Sache geschaffen. Die Ernsthaftigkeit beschränkte sich nicht aufs Sujet: Die Gericault-Variationen entlockten dem staunenden Publikum auch stets jenen Satz, der zum Emblem der ganzen posthumen Kippenberger-Rezeption werden sollte: „Der konnte ja malen!“
Diese erleichtert erfreute Feststellung, dass das Ärgernis Kippenberger sich als Könner ruhigstellen ließ, fiel in ihrer dezenten Obszönität stets zusammen mit echter Erschütterung: dass da auch was fehlte. Ein Kippenberger, der einfach nur malen konnte, war es jedenfalls nicht, der uns all die Jahre prächtig unterhalten, intellektuell überrascht und heillos genervt hat. Was von ihm jetzt zu bleiben schien, war ein reichhaltiges, buntes, komplexes, hochintelligentes und stumpfsinnig groteskes Werk, mit dem man endlich ästhetische Erfahrungen machen konnte, ohne ständig von den Einmischungen ihres Urhebers sich irritieren lassen zu müssen. Der konnte also malen (denken, konzipieren, lesen, wissen etc.). Aber zu Lebzeiten hatte er dafür gesorgt, dass dies nur im Präteritum gesagt werden konnte.
Man könnte die posthume Kippenberger-Rezeption als Umkehrung der posthumen Beuys-Rezeption beschreiben. Beuys war der erste deutsche Künstler, dessen Arbeiten zu Lebzeiten so eng mit der Präsenz seiner Person verbunden waren, dass sich ein neues Problem ergab, als er schließlich starb. Doch war Beuys zu Lebzeiten nahezu unumstritten: von den verschiedenen Fraktionen der Kunstwelt geschätzt, den spirituellen ebenso wie – weitgehend – von politischen. Beuys gab den engagierten Grünen und Friedensfreund, und er ermöglichte den Distinktionsgewinnlern Scherze über den mangelnden Kunstverstand von Putzfrauen und Sozialdemokraten. Nach seinem Tod ist Beuys als große Integrationsfigur einer westdeutschen Nachkriegsmoderne von der Bildfläche verschwunden. Wenn man überhaupt von ihm hört, dann, weil nun der Anthroposophen-Sums und die deutsche Mystik in diesem Werk auch mal den einen oder anderen Ideologieverdacht aufgeweckt haben.
Kippenberger war hingegen zu Lebzeiten wirklich umstritten. Die Presse, jedenfalls das so genannte Feuilleton, schrieb kein einziges freundliches Wort, die Museen ignorierten ihn. Das distinguierte Kunstpublikum ließ sich – ja, ich muss das schreckliche Wort hier benutzen – „provozieren“, die Szene war von seinen sexistischen Witzen genervt und selbst die, die ihn trotz allem immer wieder verteidigten, versuchten die endlosen Performances auf den Eröffnungsparties zu schwänzen. All das ist wie weggeblasen: Nach seinem Tod wollen ihn alle Museen, das Feuilleton schreibt kein unfreundliches Wort mehr. Und auch eine neue Interpretation setzt ein, die aus dem „Der konnte ja malen“ schließlich den Ahnen der neuen deutschen Malerei und all ihrer – vor allem – biederen Rückkehrmanöver zu einer Kunst der klaren Arbeitsteilung zwischen den wieder ganz unbezweifelten Institutionen des Kunstbetriebs gemacht hat.
Doch hat er das ganz gewiss nicht gewollt, und für eine solche Restauration steht auch – genauer besehen – seine Arbeit nicht zur Verfügung. Es hatte nämlich einen Grund, dass Kippenberger seine immense Produktion von Ideen an Auftritte band; es hatte einen Grund, dass er die grundlegende Peinlichkeit jedes Künstlertums stets mit ausstellen wollte. Es hatte einen Grund, dass die performative Seite seiner Produktion nie zum Stillstand kam. Selbst dann nicht, als er in den letzten Jahren dazu überging, sehr unterschiedliche Arbeiten an sehr unterschiedliche und ihn teilweise entlastende Kontexte anzudocken: ein Fake-Museum auf einer griechischen Insel, das erwähnte weltweite Netz von U-Bahn-Eingängen, dazu eine neue und junge Schar von Studierenden und Mitarbeitern, mit denen er nun oft eher arbeitete als nur zu feiern.
Dieser Grund für die Performance ist von der Beuys-Problematik nicht zu trennen. Als Kippenberger anfing, öffentlich zu agieren, war nicht klar, dass allein die Kunstszene sein bevorzugtes Milieu sein würde. Im Berlin, Paris und Hamburg der späten 70er, frühen 80er wechselte er zwischen theatralen Performances und der Welt des Punk-Rock und spielte in mehreren Spielfilmen mit.
Im bildenden Künstler sah er schließlich die größte und monströseste Figur, vollkommen verwickelt und vernetzt in eine Welt der Lügen und Peinlichkeiten mit einem gleichzeitig extrem hohen Unterhaltungswert. Dieser faszinierenden Figur wollte er zeitlebens zur Kenntlichkeit verhelfen.
Man kann sich dabei nicht auf die bequem-kritische Position zurückziehen, er habe dies gewollt, um sie bloßstellen und kritisieren zu können. Vielmehr hat Kippenbergers Hassliebe zur Künstlerfigur erst das Material auch zu ihrer Kritik herbeigeschafft: vom „Hustler“-Atelier-Witz bis zu Picasso-Starfotos, vom Boulevard-Bohemien Lüpertz bis zur zwangsneurotisch monochrom malenden Spiderman-Spinne (die er in einem Buch über psychedelische Kunst gefunden hatte: unter LSD spinnt sie psychedelisch verformte Netze).
Kippenberger war zugleich der größte Kritiker wie Darsteller dieser Figur. Für die seit den 90ern immer stärker gewordene Kritik eines solchen ganz aus sich selbst heraus schaffenden und schöpfenden, herrschenden und hustelnden Künstlersubjekts lieferte er nicht nur die Tools, die Theorien und die Tatbestände, sondern stellte sich gerne auch als Feindbild zur Verfügung. Kippenberger war diesem Problem so nahe, war ein solcher Experte, dass er nicht einfach auf eine sichere Seite hätte rübermachen können, von der aus er nur entschärfend zu sagen brauchte, dass alle Kapriolen als Bausteine der Kritik verstanden werden sollten. Aber ohne diese Bausteine wäre die Kritik des Künstlertums auch nicht sehr weit gekommen.
Von dieser Problematik ist nichts geblieben in seiner posthumen Rezeption. Sie war aber der Grund, warum er zu Lebzeiten nicht in die repräsentativen Pläne deutscher Museen passte. Je länger Kippenberger seine Energien darauf ausrichtete, sich seine eigene soziale Umgebung zu schaffen und Freundeskreise oder Kontaktpersonen überall auf der Welt zu organisieren, desto besser gelang es ihm zwar, den zentralen Widerspruch seiner Hassliebe zur Künstlerfigur in mehr immanente Probleme einzelner Projekte und Serien von Arbeiten umzuleiten. Diese stehen aber heute, separiert von ihrem Anliegen, einem Kunstgenuss zur Verfügung, der auch davon profitiert, welche Einsichten über die produktive Unmöglichkeit der klassischen Künstlerfigur und der mit ihr verbundenen Kunst hier eingearbeitet sind. Je mehr Kippenberger diese nach und nach perfektionierte Umleitung seines Projekts in Kunstwerte gelang, die auch für sich funktionierten, desto leerer wurden seine Performances. Seine eigene Kunst brauchte ihn nicht mehr so. Die posthume Rezeption braucht ihn gar nicht mehr. Kulinarisch kann sie nicht genug von ihm bekommen.
Spätestens mit Kippenberger muss die bildende Kunst und ihre Geschichtsschreibung sich etwas einfallen lassen, wie sie mit den neu vom performativen Turn – die Linie Pollock-Fluxus-Beuys-Kippenberger wie auch die feministische Gegenlinie Ono-Export-Rainer-Fraser – formulierten Verhältnissen im Museum umgehen will. Nahezu jede posthume Ausstellung von reinen Werken verfehlt eben die Künstler, deren Performance immer auch sowohl die Dimension eines Dementi der eigenen Produkte haben konnte, wie sie im Übrigen auch kuratorisch immer schon die bestmögliche Inszenierung mitbedacht hat. Dass Kippenbergers Arbeiten auch im Einzelnen oft so gut sind und wie abgeschlossene Werke funktionieren, darf nicht dazu führen, ihre anderen Dimensionen damit für erledigt zu halten. Zum Bühnenbild ohne Stück reduziert, wird seine Arbeit zur Legitimationstrategie einer bürgerlichen Kunstrestauration gefälscht und missbraucht.