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Archiv-Artikel

„Ausdruck einer Kränkung“

Der Bayreuther Suizidforscher Manfred Wolfersdorf über den Zusammenhang von Risikosport und Selbsttötungen sowie über depressive und narzisstische Politiker

taz: Herr Wolfersdorf, gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Sport Fallschirmspringen und einem Hang zur Suizidalität?

Manfred Wolfersdorf: Nein, im Gegenteil. Menschen, die Risikosportarten betreiben, wollen gerade den Kick des Überlebens erfahren. Wenn jedoch Risikosportler sich selbst töten wollen, tun sie dies meist mit ihrer Sportart. Dies kennt man in der Suizidforschung von Piloten, aber auch von Bungee-Springern.

Dennoch spielen Fallschirmspringer mit jedem Sprung einen möglichen Tod durch.

Ja, aber sie tun alles, um ihn zu vermeiden. Nur, wenn sie sich töten wollen, verfügen sie über eine nahe liegende Methode – weil sie das Wissen um die Tödlichkeit ihres Sports haben.

Gibt es Erkenntnisse darüber, ob ein bestimmter Politikertypus zur Selbsttötung neigt?

Nein. Es gibt untersuchte Einzelfälle von depressiven Politikern. Ihre Depression hat jedoch nichts oder nur sehr wenig mit politischen Inhalten zu tun, die sie vertreten. In aller Regel hängt sie mit Arbeitsüberlastung und Beziehungsstörungen zusammen. Aber Jürgen Möllemann litt sicherlich weder an Depression noch an einer Schizophrenie.

Sondern?

Er hat bestimmt häufig darüber nachgedacht, sich umzubringen. Sicher aber war er niemand, der innerlich immer näher an den Tod heranrückte. Dazu war er zu lebensbejahend, zu kämpferisch, zu neurotisch. Er hat es immer geliebt, sich in der Öffentlichkeit darzustellen – und es nun ein letztes Mal getan.

War dieser Tod also inszeniert?

Man kann diesen Tod als eine letzte große Selbstinszenierung bezeichnen – nicht in dem Sinne, dass er durchgeplant war, aber in dem Sinne, dass eine tiefe Gekränktheit und der Verlust des Selbstwertgefühls mit einem letzten aktiven Akt beantwortet wurde: „Ich kann was tun.“

Jürgen Möllemann soll sein Selbstwertgefühl verloren haben?

Ja, das muss so gewesen sein. Die Demontage seiner Person war doch nun wirklich für alle erkennbar. Sein Bild in der Öffentlichkeit war ruiniert. Diese Selbsttötung ist als eine aktive Rettung des eigenen narzisstischen Selbstwertgefühls zu bezeichnen: Sie ist Ausdruck einer narzisstischen Kränkung. INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN