: Morgenröte im Wedding
Der Wedding trotzt seinem Niedergang. Er kann es nur, weil Eigeninitiative und Selbstverantwortung dort langsam wieder in Mode kommen. Die Gartenstadt Atlantic am Gesundbrunnen macht dieses zukunftsträchtige Berlinmodell in großem Stil nach
VON WALTRAUD SCHWAB
Nördlich des Gesundbrunnens wird seit zwei Jahren an der Zukunft des Wedding gebastelt. Der Vorstand der Aktiengesellschaft, die die dortige „Gartenstadt Atlantic“ besitzt, hat seine soziale Verantwortung entdeckt. Dazu gehört, dass er das 500 Wohnungen umfassende Areal nicht für viele Millionen verkaufte, wie die Finanzberater rieten, sondern sich dem vor sich hin gammelnden Vermächtnis der Vorfahren stellte.
Die Gegend um den Gesundbrunnen hat einen schlechten Ruf. Das dortige Einkaufscenter hat dem Kleingewerbe in den Straßen, die zu Mauerzeiten von Ostberlin eingekreist waren, den Garaus gemacht. Die Ruine des benachbarten Sportgeländes, wo Herta BSC seine Wiege hatte, steht für diesen Niedergang.
Von der Reformidee des Architekten der Gartenstadt, Rudolf Fränkels, die in den Zwanzigerjahren Licht, Luft und Sonne in die Stadt bringen wollte, war 80 Jahre später nicht viel übrig. Um der Enteignung durch die Nazis zuvorzukommen, hatte der ursprüngliche Besitzer Karl Wolffsohn sie vor seiner Flucht an Freunde überschrieben. An ihr Versprechen, sie ihm nach Ende der Diktatur zurückzugeben, erinnerten sie sich nicht. Der jahrelange Rückgabestreit hat der Gartenstadt zugesetzt. Wohnungen und Innenhöfe verkamen, das Lichtburg-Kino, Aushängeschild der Gartenstadt, wurde abgerissen, und die Probleme, die die Mieter mitbrachten, passten zum Wedding: Arbeitslosigkeit, Alkohol, Gewalt in der Familie, Ignoranz zwischen deutschen und nichtdeutschen Mietern.
Im Nachhinein, sagt ein Vorstand der Gartenstadt AG, der ungenannt bleiben will, habe der Brief eines Mieters den Ausschlag gegeben, sich den Besitz genauer anzuschauen. Der Mann beschwerte sich über Kinder, die auf Mülltonnen spielen. Ein paar Fotos schickte er ebenfalls mit. „Dass die Kleinen keinen anderen Platz zum Toben haben!“, entsetzte sich eine Eigentümerin.
Plötzlich übertrafen sich die Besitzer mit Ideen, wie man das Leben in der Gartenstadt verbessern könne. Monatliche Mieterversammlungen wurden eingerichtet, Vertrauensmieter gewählt. Die Sanierung des denkmalgeschützten Areals war unumgänglich. Sie wurde, so bestätigen die Bewohner, mit ihnen abgesprochen. Der erste Bauabschnitt ist gerade beendet.
Um die Verantwortung der Mieter zu fördern, wurde ein Nachbarschaftspreis ausgeschrieben. 250 Euro plus Urkunde. Günter Reibert und Erich Thaege haben ihn bekommen. „Weil man halt ein bisschen gucken muss, dass nicht alles verschludert“, sagt Helga Thaege. Sie und ihr Mann wohnen schon seit 1950 hier. „Da hat man viel erlebt“, sagt sie. „Nachkriegszeit. Mauerbau. Niedergang des Wedding, Mauerfall, neue Mitte.“
„Die Wohnung ist der Leib, das Umfeld ist die Seele“, sagt Michael Wolffsohn. Er ist Vorstand der Lichtburgstiftung, die einen türkisch-jüdisch-deutschen Dialog in der Gartenstadt aufbauen möchte. Ein Teil der Ladenzeile wurde dafür in einen Theater- und Konzertraum umgebaut.
Es lässt sich kaum leugnen, dass die Eigentümer erfindungssreichen Umgang mit derWirtschaft pflegen, denn die Liste der Sponsoren, von denen sie sich ihre sozialen Utopien fördern lassen, ist lang. Die Miete für das Kulturzentrum bezahlt Hannover-Leasing. Für einen Brunnen und die Lichtinstallation vor dem Restaurant, das demnächst eröffnet werden soll, zahlen Banken; DaimlerChrysler hat vor kurzem einen Kleintransporter gesponsert, mit dem Leute aus dem jüdischen Altenheim zu den Veranstaltungen gefahren werden können. Lea Rosh hält hier ihren Salon ab, mit Filmhochschulen wird zusammengearbeitet, Literatur-, Film- und Designpreise wurden ins Leben gerufen, alle von der Industrie gesponsert.
Weil Kleingewerbe sich kaum halten kann gegenüber dem Gesundbrunnencenter, achten die Besitzer darauf, dass die Läden, die noch da sind, trotz Sanierung überleben können. Der Kiosk wurde deshalb um eine Post und einen Herta-BSC-Fan-Artikel-Shop erweitert. „Die Eigentümer engagieren sich in unserem Sinne ganz stark“, bestätigt die Inhaberin Roswitha Kummer. Auch Bohemiens wurden angelockt. Der Bildhauer Günther Uecker hat hier sein Atelier. Die noch unrenovierten Läden wurden billig an unbekannte KünstlerInnen vergeben. Nach der Sanierung soll dort mit Künstlerwerkstätten so etwas wie „Worpswede in Berlin“ etabliert werden.
Hartnäckig hält sich die Überzeugung, dass der Wedding nicht lohne. Ohne Flair sei er, ohne Szene, ohne Kultur. Um in den Wedding zu fahren, braucht es zwei Gründe, behaupten Hauptstädter, die noch nie einen Fuß dorthin gesetzt haben. Soll heißen: Ein Grund reicht nicht aus. Sie wissen nicht, dass im Bezirk an vielen Ecken dem sozialen Niedergang getrotzt wird. Die Gartenstadt macht im großen Stil, was im Kleinen bereits geschieht: Wirte begrünen Plätze vor ihren Kneipen, Hausmeister nehmen sich der No-Future-Generation an, Lehrerinnen organisieren Frühstück für die Kinder, die hungrig zur Schule kommen, Adlige stellen in ihren Wohnungen Bilder aus, Bayern brauen Weddinger Bier, und im Afrikanischen Viertel lebt der Berliner Trödelladen wieder auf [dann muss ick da ma wieda hin, wa! d. säzzer]. Das ist wenig, aber mehr als nichts. Zukunft nämlich lässt sich nicht ausstellen.