: Matthias Urbach über den 23. Tag der Moon Five
Entsetzen im Mare Vaporum
Nach dem Tod von Jeff Bezos melden sich erstmals die Mondtouristen von ihrer Station und bestätigen die Suizidthese. Bodenstation ist besorgt um die Psyche der Gestrandeten. Start der Rettungsmission beschäftigt nun auch die US-Regierung
Jupp de Keups linkes Augenlid zuckt. Immer wieder. Wie eine Fliege im Spinnennetz. Die Augen zeigen von Erschöpfung geplatzte Äderchen, sein Blick sinkt beim Reden leicht. „Die Schleuse, voller Blut“, flüstert der Sprecher der Moon Five. „Jeff Bezos hat sich das Leben genommen.“
Es ist das erste Mal, dass einer der Mondreisenden sich meldet, seit der Stationscomputer kein Lebenszeichen von Bezos mehr registriert. Wie gelähmt starren die Ingenieure der Bodenkontrolle im indischen Sriharikota Space Center (Shar) auf den mächtigen Bildschirm an der Wand. Nur das von den Lautsprechern verstärkte unruhige Schnaufen des 47-Jährigen ist noch zu hören: Fast 380.000 Kilometer ist es durch den Weltraum zur Erde gereist. 380.000 Kilometer, eine Distanz, die auch dem Rest des Quintetts zum Verhängnis werden könnte.
De Keup sagt nichts mehr. Plötzlich langt eine Hand ins Bild und stößt ihn zur Seite. Ein unrasiertes, glänzendes Gesicht drängt sich vor die Linse der SpaceCam. Es ist Narayana Murthy, der 83-jährige ehemalige Software-Tycoon. Er brüllt: „Wir können euer Zaudern nicht länger ertragen.“ Dann ein unverständlicher Fluch, als er sich de Keup vom Leib hält. Und: „Holt uns endlich zurück auf die Erde!“
Das ist ein so ganz anderer Eindruck als in den ersten 22 Tagen, in denen die Berichte aus dem eiförmigen Moonstruck-Container im Mare Vaporum auf der erdzugewandten Seite des Mondes wirkten wie die Meldungen einer Pfadfindertruppe, die sich im Wald verirrt hatte: etwas verloren zwar, aber fest vertrauend, dass sich immer ein Ausweg findet. Doch nun verlieren die gestrandeten Weltraumtouristen, die immer verzweifelter auf den Start der Rettungsmission warten, langsam die Geduld mit der Ground Control. Nach der Havarie ihres Moon Shuttles, der „George W. Bush“, erkennen die begleitenden Psychologen auf der Bodenstation erste Anzeichen des berüchtigen ISS-Syndroms.
Trotz des Todes von Reiseleiter Bezos dominierten auch gestern wieder Schilderungen technischer Details des Tsai-Raketenantriebs das tägliche Briefing der Raumfahrtbehörde Indian Space Research Organization (Isro). Die zentrale Aussage ist seit Tagen dieselbe. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die Mondrakete ‚Chandrayan-12‘ startklar zu machen“, erklärte Isro-Chef Rohit Basu. Ein normaler Start benötige schon einen Vorlauf von vier Monaten, ob es nun in 28 Tagen gelinge, wie erforderlich, sei weiter offen. „Wir werden unsere Astronauten nicht auf ein Himmelfahrtskommando schicken.“
Vielleicht hat die Isro nun ohnehin mehr Zeit: Nach dem Tod von Bezos sollten die Lebensmittelvorräte bei strenger Rationierung für eine weitere Woche reichen. Völlig unklar ist hingegen, wie die verbliebenen vier der Moon Five mit dem Tod ihres Reiseleiters fertig werden. Die Anwälte der Gestrandeten zeigten sich auf einer eilends einberufenen Pressekonferenz in Madras besorgt. „Wenn nicht bald Gewissheit über einen Rettungseinsatz besteht, werden unsere Mandanten vielleicht nicht lange genug leben, um die verbliebenen Lebensmittel überhaupt noch zu verzehren“, erklärte Völkerrechtlerin Ella Petronella vom Londoner Anwaltsbüro Petronella & Schillings.
Offenbar ist Bezos (65) in der Luftschleuse zur Garage des Mond-Hondas gestorben. Der einstige Amazon-Gründer Jeff Bezos war es, der vor fünf Jahren bei der Abwicklung der Nasa die Überreste des gescheiterten Mondprojekts aufkaufte: Für nur 12,5 Milliarden US-Dollar übernahm er die erste Ausbaustufe der Basis samt dem Mondgleiter „George W. Bush“.
Auf dem Höhepunkt ihrer Wirtschaftskrise mussten die USA 2024 ihr bemanntes Raumfahrtprogramm fast komplett streichen – insbesondere die 2004 vom damaligen Präsidenten George W. Bush initiierte Mondbasis und den bemannten Marsflug. Der Nasa-Nachfolger, die Space Exploration Agency (SEA), setzt nur noch im Erdorbit gelegentlich Astronauten ein. China, Russland und die EU hatten bereits Jahre zuvor ihre bemannten Missionen eingestellt. Sie gelten als zu teuer; „der Roboter ist dem Menschen im Weltraum deutlich überlegen“, hatte die ESA 2021 in ihrem Abwicklungsbeschluss argumentiert.
Bezos machte während der Jahrtausendwende ein Vermögen mit seinem einst als Buchshop gestarteten Megaseller Amazon.com, bevor er Blue Origins gründete und in den Weltraumtourismus überwechselte. In den Zehnern begann Bezos mit ersten kurzen Raumflügen in 100 Kilometer Höhe, bevor sich mit dem Aufkauf der Nasa-Konkursmasse alles änderte. Bezos musste zur Finanzierung seine gesamten Amazon-Anteile verkaufen und widmete sich ganz dem Raumtourismus. Mit dem Start der „George W. Bush“ vor dreieinhalb Wochen, die bei der Landung auf dem Mond havarierte, wollte Bezos sich und vier anderen illustren Milliardären den Traum vom Mondspaziergang erfüllen.
US-Präsidentin Estefania Del Torres zeigte sich von Bezos Tod erschüttert. „Wir haben einen großen amerikanischen Pionier verloren“, erklärte sie eine Stunde nach de Keups Videoübertragung. „Es müssen nun alle Anstrengungen unternommen werden, das Rettungsschiff auf den Weg zu bringen.“ Offenbar hegt das Weiße Haus Zweifel an der Aufrichtigkeit der indischen Rettungsbemühungen. Ein Scheitern, hieß es in US-Regierungskreisen, käme Regierungschef Ahmed Batni zupass, schließlich hänge auch der indische Regierungskritiker Narayana Murthy (83) auf der Mondbasis fest, der aus seinem Vermögen seit Jahren großzügig die Kampagne „Versöhnung mit Pakistan“ unterstützt. Der Chef der indischen Raumfahrtbehörde Basu wies „solche Unterstellungen“ zurück. „Die Amerikaner sollten sich lieber fragen, warum sie nicht selbst zur Rettung fähig sind.“
Del Torres bat UN-Generalsekretärin Xiane Heller um Vermittlung. Wenn nötig, sollten die Vereinten Nationen die Rettung koordinieren. So ein Einsatz könnte für Del Torres allerdings zweischneidig sein: Noch immer ist unklar, wer diese Mission, deren Kosten auf 18,3 Milliarden Dollar geschätzt werden, bezahlt. Obwohl die Mondfahrer allesamt zu den 100 reichsten Menschen der Welt gehören, haben sie angeblich nicht mehr genug Geld. Ihre Anwälte erklärten, ihre Klienten könnten höchstens 14 Milliarden aufbringen. Bei vergleichbaren Fällen von Rettungen auf See neigt die UN dazu, die Kosten dem Heimatland der Geretteten anzulasten. Zwei der Vier sind Amerikaner.
Ursprünglich besaß Blue Origins zwei Moon Shuttles, doch die „Jack Daniels“ wurde durch eine Explosion im Tsai-Generator vor zwei Jahren schwer beschädigt. Der Unfall ließ den Aktienkurs von Blue Origins um 90 Prozent fallen. Bezos zog von Cape Canaveral in das Sriharikota Space Center auf einer Insel vor der Ostküste Indiens – und verschiffte die „George W. Bush“ dorthin. Nur durch milliardenschwere Beteiligungen seiner ersten superreichen Urlauber an Blue Origins gelang es Bezos dann, seinen ersten Mondflug überhaupt zu realisieren. Für das Risiko eines Fehlschlags konnte er jedoch keine Rücklagen mehr bilden. Blue Origins musste sofort nach der Bruchlandung der „George W. Bush“ Insolvenz anmelden. Darüber war es in der Reisegruppe auf dem Mond zu heftigem Streit gekommen.
Vier Männer hatte Bezos mitgenommen: den holländischen Bauingenieur Jupp de Keup, der mit Kohlendioxid bindendem Magnesiumzement ein Vermögen machte, den indischen Softwarepionier Narayana Murthy, den Internetunternehmer Larry Page (56), der mit einer Suchmaschine namens „Google“ Milliarden verdient hatte, und den südkoreanischen Stammzellenforscher Woo Suk Hwang (76), der dank seiner Gesundheitsfirma Jang Soo (Langes Leben) zeitweilig reichster Mann der Erde war.
Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft in Madras mit der Auswertung des Stationsschreibers begonnen. Das indische Innenministerium sprach von „reiner Routine“. Trotzdem kamen am Nachmittag Gerüchte auf, es gebe Zweifel an der Selbstmordversion. Genährt werden diese durch das seltsame Verhalten von Larry Page. Er funkte am späten Abend überraschend die Kontrollstation an, und verlangte, Petronella „unter vier Augen“ zu sprechen. Die sichtbar aufgewühlte Anwältin wollte das Gespräch nicht kommentieren.