: Jörn Kabisch trifft den Todesforscher Hark Sänger
„Wie wollen Sie denn sterben, Herr Sänger?“
TAZ: Herr Sänger, heute geht es um Leben und Tod. Waren Sie schon einmal in so einer Situation?
HARK SÄNGER: Dass ich um mein Leben gefürchtet habe? Nein, eigentlich nie. Ich war nie ernsthaft krank, hatte nie einen Unfall. Die Männer in meiner Familie – mein Uropa, mein Opa – sind weit in den Neunzigern gestorben. Mein Vater wird bald 80 und arbeitet immer noch. Nein, der Tod war für mich nie ein Thema.
Bis Sie nun ein Buch geschrieben haben. Es heißt „Wir wollen nicht sterben!“ Was war der Anlass?
Zwei kleine Zeitungsmeldungen. In der ersten stand, dass die Lebenserwartung für Männer in Mitteleuropa 2080 bei 100 Jahren angelangt sein könnte. Ich wäre dann 99 und habe mich bei dem Gedanken ertappt, es darauf ankommen zu lassen, noch das 22. Jahrhundert zu erreichen – eigentlich eine grauenhafte Vorstellung.
Und die zweite Meldung?
Das war auf den ersten Blick eine ganz traurige Geschichte: Ein Tag nach der Premiere von Becketts „Endspiel“ in einem Seniorenheim auf Usedom wurde einer der Schauspieler tot in seinem Bett gefunden. Er hatte kurz vor der Aufführung irgendwas geschluckt und wollte auf der Bühne sterben. Ich habe dann mit den Heimbewohnern gesprochen. Da war Respekt zu spüren. Einer der Leute sagte nur: „A scheene Leichn.“ Ein Wiener natürlich.
Der Tote auf Usedom taucht als Herr Elias in ihrem Buch auf …
Genau. Wissen Sie, wie ich auf den Namen gekommen bin. Es war ein Text von Elias Canetti – ein zu Unrecht vergessener Schriftsteller. Canetti ist 1994 mit 99 gestorben. Er schrieb kurz davor, er hätte sein Leben lang riesige Angst vor dem Tod gehabt. Ich habe mich gefragt, ob es da einen Zusammenhang mit seinem hohen Alter gibt?
Und? Gibt es den?
Das kann noch niemand beantworten. Es ist diese Geschichte vom alten Indianer, der eines Tages den Tod spürt und sich zum Sterben hinlegt. Da sei was dran, haben mir die Wissenschaftler erzählt. Immer wieder haben sie in Kliniken beobachtet, wie Todkranke auf einmal den Lebenswillen verlieren und gewissermaßen den Körper nach und nach ausschalten. Bei Canetti war es vielleicht andersrum. Sein Lebenswillen war so stark, dass er verzweifelt am Leben gehangen hat und sich immer wieder gegen den Tod entschieden hat.
Und so alt wie Canetti wollen Sie nicht werden?
Wie gesagt, es ist für mich eine grauenhafte Vorstellung, auch noch den Beginn des 22. Jahrhunderts zu erleben. Ich bin jetzt 43 Jahre alt und habe mir vor zwei Jahren, als meine erste Tochter geboren wurde, gedacht, dass ich froh sein sollte, noch mitzuerleben, wie sie
„Heute machen wir als 30-Jährige mit unserem Leben Schluss“
auszieht. Jetzt soll ich also auch noch meine Urenkel kennen lernen? Ich weiß wirklich nicht, ob ich das will.
Warum wollen Sie nicht so alt werden?
Abgesehen davon, dass ich es mir nicht leisten kann, wenn ich nicht bis achtzig arbeite, weil ich nie Geld für eine Privatrente hatte: Ich habe mir eben nie vorstellen können, an die hundert Jahre alt zu werden. Bis siebzig Jahre arbeiten, dann noch ein Mal den Bauch straffen lassen und für die letzten zehn Jahre in ein Seniorendorf an die Algarve. Das wäre doch eine glänzende Aussicht …
Und zugleich die Antwort auf eine der Kernfragen dieses Gesprächs „Wie wollen Sie sterben?“ Jugendlich?
Wer will das nicht. Aber ist das die entscheidende Frage? Ich versuche in meinem Buch zu erklären, warum wir die Frage „Will ich sterben?“ wieder beantworten müssen, und zwar mit Ja. Weil wir dann wieder zu leben beginnen. Weil wir heute als 30-Jährige mit unserem Leben Schluss machen und die nächsten Jahrzehnte damit verbringen, uns in der Fassung eines Thirtysomethings zu konservieren.
Als Anleitung zum Leben ist Ihr Buch aber gerade nicht verstanden worden. Eher als moralische Ertüchtigung für lebensmüde Senioren …
Ich bin mir ziemlich sicher: Von denen werde ich nicht falsch verstanden. Aber wo wir dabei sind: Es ist doch ein Skandal: Seit Jahren ist bekannt, dass die Suizidrate in der Altersklasse über 70 die höchste ist. Aber nur, wenn den Alten jemand beim Sterben behilflich war, sorgt das für Schlagzeilen. Wenn aber jemand, der sich die private Koma-Versicherung nicht leisten kann, nicht an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen wird, dann nenne ich das Resultat „erzwungene Selbsttötung.
Dennoch läuft Ihr Buch zwangsläufig auf die Frage nach dem selbst gewählten Tod hinaus?
Ja, es hat wahrscheinlich diese Konsequenz. Offenbar stellen sich immer mehr ältere Menschen auch diese Frage? Ich finde, man sollte dann dabei helfen, sie zu beantworten, anstatt die Frage zu tabuisieren oder zu pathologisieren. Und viele machen es sich mit der Frage zu leicht.
Wie meinen Sie das?
Als die Abtreibung im vorigen Jahrhundert in Deutschland legalisiert wurde, mussten schwangere Frauen vorher zwingend zu einem Beratungsgespräch. Ich meine nicht, dass es so etwas als Suizidalberatung jemals geben wird. Dafür ist der Nachwuchs in einer Gesellschaft wichtiger als die greise Nachhut. Ich wünsche mir aber, dass es Thema im Gespräch unter Freunden wird. Um zu verdeutlichen, was ich meine, können Sie mir übrigens jetzt Ihre Kernfrage stellen.
Wie wollen Sie sterben?
Mit freiem Willen.
Also, nicht selbstbestimmt?
Nein, mit freiem Willen. Ob aus freiem Willen, werden wir sehen.
Was soll auf dem Grabstein stehen?
Er hat für seinen Tod gekämpft!