Gelb markiertes Abenteuer

Das piemontesische Mairatal ist zu einer Enklave deutscher Kulturwanderer geworden. Sie durchwandern die einsamen Höhenpfade mit dem leichten Gewissen von sanften Touristen

von GERHARD FITZTHUM

Am Colle di San Michele herrscht Ruhe. Noch heute gehört er den Jägern und Hirten, keine Straße führt herauf, kein Bauwerk weit und breit. Der Blick fällt in ein tief eingeschnittenes Tal, das zur engen Talsohle hin immer steiler und felsiger wird. Nebelschwaden steigen über die spärlich bewaldeten Grasrücken auf und verstärken den Eindruck der Weltferne. Das Mairatal in den Cottischen Alpen – eine Landschaft wie aus dem Märchenbuch, verträumt, vergessen, bizarr.

Der Blick in das sich nach Norden öffnende Seitental verrät, dass wir uns noch in der bewohnten Welt befinden: Ein paar Dörfchen und Häusergruppen liegen dort hinten hoch über der Schlucht auf weiten Wiesenhängen verstreut. Sie gehören zur Gemeinde Elva, die unser heutiges Tagesziel ist. Seit Tagen folgen wir den knallgelben Markierungen, auf die man sich verlassen kann. Sie sind die Symbole eines sanfte Tourismus, der hier gefördert wird.

Eigens für die Touristen ist unser Weg allerdings nicht angelegt worden. Vielmehr ist er so alt wie die Dörfer, durch die er führt. Die Bergbauern gingen auf diesen Höhenwegen von einem Ort zum anderen, ohne ins zerklüftete Haupttal abzusteigen. Doch das ist längst vorbei. Die kleinräumige Bergbauernwirtschaft ist nicht mehr konkurrenzfähig, die Menschen wandern ab. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sind in den meisten Gemeinden neun von zehn Einwohnern hinunter in die Industriezentren der Poebene gezogen oder ins nahe gelegene Frankreich. In vielen Dörfern halten nur noch ein paar Alte die Stellung.

Das Ortsschild von Elva trägt die Aufschrift „minoranco prouvencalo“ – provenzalische Minderheit. Im richtigen Italien ist man also auch hier nicht. Wie die Nachbartäler gehört das Mairatal zum okzitanischen Kulturraum, der einst von Südfrankreich bis dorthin ins Piemont reichte, wo das Gebirge in die Poebene ausläuft. Noch heute unterhalten sich die älteren Talbewohner in der Sprache der mittelalterlichen Troubadours. In den Sechzigerjahren wurde sogar der Ruf nach politischer Autonomie laut. Der Widerstand gegen Rom flaut angesichts der dramatisch rückläufigen Zahl der aktiven Sprecher inzwischen aber wieder ab. Komplementär dazu beginnt die touristische Vermarktung der „Langue d’oc“-Kultur.

Zugpferd ist der Mairatalrundweg, auf dem wir unterwegs sind. Er heißt percorsi occitani, – okzitanische Pfade, und hat dreizehn Etappen und unzählige Querverbindungen. Statt auf die Gipfel führt er durch den menschlichen Lebensraum, also auch durch die Dörfer.

Hier wurden in leer stehenden Bauern- oder Schulhäusern einfache Matratzenlager eingerichtet, für die sich der Wanderer irgendwo im Ort den Schlüssel holt. Fast überall gibt es noch eine kleine Trattoria in der Nähe, in der man gut zu Abend essen kann. Wo nicht, stehen Kochplatte und Geschirr bereit. Das Konzept ist das einer dezentralen, umwelt- und sozialverträglichen Tourismusentwicklung: Indem die Unterkünfte ausschließlich von Einheimischen betreut werden, ist sichergestellt, dass die Einnahmen im Tal bleiben. Sie sollen den Berglern neben Landwirtschaft, Pension und Nebenerwerben aller Art ein weiteres, wenn auch bescheidenes Standbein verschaffen, um sie zum Bleiben zu motivieren.

Die wenigen Gäste, die außerhalb der Saison ins Tal kamen und länger als ein Wochenende blieben, versammeln sich vor allem bei Andreas und Maria Schneider, den Initiatoren des percorsi-occitani-Projekts. Das deutsch-österreichische Ehepaar hatte sich in den Achtzigerjahren einige Häuser im hoffnungslos entvölkerten Weiler San Martino gekauft und zu einem centro culturale mit Übernachtungsplätzen und Halbpension umgebaut.

Vom Erfolg des Schneider’schen Feriendomizils beeindruckt, ließ sich der Talschafts-Präsident für das Experiment eines taleigenen Rundwegs gewinnen und besorgte Zuschüsse und Sponsoren. Auch einige einheimische Hüttenwarte und Gastronomen zogen mit. Dass das Angebot der percorsi wie eine Bombe einschlagen würde, ahnte damals niemand. Viele posti tappe haben inzwischen 600 bis 700 Übernachtungen im Jahr. 90 Prozent der Wanderer, die auf diesen kulturhistorischen Pfaden ziehen, sind Deutsche.

Für Paolo Rovero hat sich das Engagement für die percorsi occitani schon gelohnt. Er hat an der Talstraße in Stroppo ein prämiertes Feinschmeckerlokal, das bis vor wenigen Jahren nur samstags und sonntags frequentiert war, weil während der Woche nun mal kaum Städter das kurvenreiche Tal heraufgefahren kommen. Heute hat er auch an Wochentagen volle Tische. Selbst für ein zweites Restaurant war die Nachfrage plötzlich groß genug. Elena und Roberto bauten ein leerstehendes Steinhaus zu einer gediegenen Trattoria um und bieten im halb verlassenen Stroppo erstmals seit langem wieder Fremdenzimmer an.

Trotz der Zeichen wiedererwachenden Lebens ist das Mairatal ein Niemandsland mit der Bevölkerungsdichte Alaskas. Um es allein zu durchstreifen, braucht man eine gehörige Portion Mut. Immer wieder geht es durch Geisterdörfer und zwischendurch auch mal durch urwaldartige Vegetation.

Um so auffälliger wirkt da das schrille Gelb der Wegmarkierungen. Statt nur wirkliche Abzweige zu kennzeichnen, haben die wandertouristischen Autodidakten des Mairatals gelegentlich jedem Baum einen Farbtupfer verpasst, sogar auf an der Hauswand gestapelten Brennholzscheiten findet sich der aufdringlich gelbe Balken – und auf Plastikfolien, mit denen Sandhaufen abgedeckt sind.

Dass das alte Wegenetz nun in Leuchtfarben zur Orientierung der Wanderer erstrahlt, will irgendwie nicht so ganz zur „Welt der Besiegten“ passen, als die der Schriftsteller Nuto Rivelli die piemontesischen Berggebiete zutreffend charakterisiert. Matteo Laugero, der im Weiler Palent wohnende Präsident der „Associazione percorsi occitani“, hält dieses Übermaß an Service für wichtig. Es gebe immer wieder Wanderer, die sich trotzdem verlaufen, sagt er.