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Archiv-Artikel

Prozess in Ferne und Abwesenheit

In Italien beginnt das Militärgerichtsverfahren gegen den Hamburger SS-Mann Gerhard Sommer. Er soll das Massaker von Saint‘ Anna mit 560 Toten befohlen haben

hamburg taz ■ Einen Urlaub in Italien dürfte Gerhard Sommer (83) nicht planen. Denn heute beginnt vor dem Militärgericht in La Spezia die Verhandlung gegen den rüstigen Rentner aus Hamburg wegen des Massakers von Sant‘Anna di Stazzema 1944. Der damalige Offizier der 16. SS-Panzer-Grenadierdivision „Reichsführer SS“ gilt als Hauptverantwortlicher der Tötung von 560 Einwohner des Dorfes in der Toskana. Mit ihm angeklagt sind die ranghohen SS-ler Ludwig Sonntag und Alfred Schönenberg.

Wer heute nach Sant‘Anna, gut 40 Kilometer südöstlich von La Spezia kommt, sieht gleich das Ossarium auf dem Col di Cava. Sein Turm hebt sich ab und erinnert, dass in seiner Basis die Überreste der Opfer eingeschlossen sind. Wer dann die Schwelle der neu aufgebauten Kirche überschreitet, steht gleich vor der Gedenktafel mit den Namen der Toten und erhält eine Ahnung vom fürchterlichen Massaker. Unter den 560 Namen sind etwa 100 von Kindern unter 14 Jahren.

In den frühen Morgenstunden des 12. August 1944 war die 4. Kompanie der SS-Einheit, angeführt von Sommer, von drei Seiten in das Bergdorf eingefallen. Sie suchten angeblich Partisanen, fanden aber alte Leute, Frauen und Kinder. Binnen vier Stunden hat die Einheit 560 Menschen erschlagen, erschossen oder verbrannt. Beinahe alle Bewohner, ganze Familien ermordete die SS. „Da hat‘s geheißen: Umlegen den ganzen Verein“, berichtete 2002 ein früherer SS-Unterscharführer einem ARD-Reporter. „Das ist wie bei der Jagd, bei der Treibjagd. Da wurden die Menschen zusammengetrieben, vor die Dorfkirche, und dann wurde geschossen.“ In der Kirche riss die SS die Bänke heraus, warf sie auf die Opfer und setzte mit Flammenwerfern alles in Brand.

Von Mai bis Dezember 1944 ermordete Sommers Division 2.000 Zivilisten. Heute will der ehemalige SS-Freiwillige mit der Presse nicht über diese Zeit sprechen. Seit fast 40 Jahren wohnt er zusammen mit seiner Frau in einem weißen Einfamilienhaus mit gut gepflegtem Garten in einer ruhigen Volksdorfer Wohnstraße. Den Nachbarn ist der 83-Jährige als „netter Mann“, der „kein Fest auslässt“, bekannt. Sommer war erst 2002 im Zusammenhang mit dem Prozess des Hamburger Kriegsverbrechers Friedrich Engel enttarnt worden, der ebenfalls seit Kriegsende unbehelligt in Hamburg wohnte, bevor der „Henker von Genua“ 2000 von Reportern aufgespürt und als 92-Jährigem der Prozess gemacht wurde.

Ob Sommer als damals ranghöchster Verantwortlicher nun auch ein Prozess in Deutschland erwartet, ist offen – zumindest aber nicht in Hamburg. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren nach Stuttgart abgegeben. Sprecher Rüdiger Bagger: „Es macht ja keinen Sinn, parallel zu ermitteln.“ Denn in Stuttgart laufen seit 2002 gegen zwölf SS-Leute Ermittlungs-Verfahren wegen des Sant‘Anna-Komplexes – unter anderem gegen Sonntag und Schönenberg. „Die Ermittlungen dauern noch an“, sagt Eckart Maak, Sprecher der Staatsanwaltschaft Stuttgart. „Wir gehen da ein bisschen tiefer als die Italiener.“ Auch sollen die Ergebnisse des jetzigen Verfahrens in eine Anklage einfließen. Maak: „Wir erwarten mit Spannung die interessante Aufarbeitung.“

ANDREAS SPEIT/PETER MÜLLER