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Archiv-Artikel

Lettland: Kein Recht auf eigene Sprache

Die Angehörigen der russischen Minderheit in der baltischen Republik kämpfen um ihre sprachliche Unabhängigkeit

STOCKHOLM taz ■ Die Situation gerät mehr und mehr außer Kontrolle, es droht Gewalt, und die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist zunehmend bedroht. Mit diesem dramatischen Appell wendete sich Ints Kuzis, Polizeichef der lettischen Hauptstadt Riga, an die Öffentlichkeit. Die Beamten seien durch die nahezu täglichen Demonstrationen von Angehörigen der russischen Minderheit völlig überfordert. Die Proteste der russischen Schülerinnen und Schüler zählen mittlerweile fast zum Alltag.

Zum 1. September soll ein Gesetz in Kraft treten, demzufolge an Schulen mit einer russischen 30-Prozent-Minderheit – in Riga machen sie allerdings die halbe Bevölkerung aus – der Unterricht zu 60 Prozent in lettischer Sprache abgehalten werden muss. Vor allem Schüler und Schülerinnen aus Wohnvierteln, in denen kaum Lettisch gesprochen wird, befürchten mit Recht Sprachschwierigkeiten im Unterricht. Lehrern geht es teilweise ähnlich, denn sie sprechen zwar lettisch, doch fehlt es ihnen häufig an notwendigem Fachvokabular.

Ilse Brand Kehris, Direktorin des lettischen Zentrums für Menschenrechte, hält die Reform für ein „großes Problem, das latente Spannungen hervorbringt“. Die Regierung rechtfertigt das bevorstehende Gesetz mit dem Bestreben, die beruflichen Chancen russischer Jugendlicher zu verbessern. Álvaro Gil-Robles, Beauftragter des Europarats für Menschenrechtsfragen, kritisierte in einem Interview mit dem schwedischen Fernsehen den „mangelnden Willen“ Rigas, die Minderheitenthematik zu lösen. Die Hürden, die Lettland aufgebaut habe und aufbaue sowie die Tatsache, der russischen Minderheit die Staatsbürgerschaft zu verweigern, drohten zu einem wachsenden Unruhefaktor zu werden. Sie zu „Nicht-Bürgern“ gemacht zu haben, sei historisch vielleicht verständlich, aber keine Lösung für die Zukunft. Obwohl die Regierung betont, dass „alle“ russischen Mitbürger mittels einer Sprach- und Wissensprüfung die Staatsbürgerschaft erlangen können, scheinen die Möglichkeiten derart begrenzt, dass seit 1995 jährlich kaum mehr als rund 8.000 der fast 500.000 Russinnen und Russen den „Aliens-Passport“ gegen einen lettischen eintauschen konnten. Gil-Robles kritisierte neben der Weigerung Rigas, der russischen Minderheit zumindest das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen einzuräumen, vor allem die Tatsache, dass die Zahl an Nicht-Staatsbürgern zu allem Überfluss auch dadurch wachse, dass Kinder nichtlettischer Eltern ebenfalls keine Staatsbürgerschaft erlangten.

In den vergangenen Monaten haben die Russlandletten zunehmend das Vertrauen in die Regierung verloren, während das eigene Gefühl der Zusammengehörigkeit wuchs. Und sicherlich sind Vergleiche der russischen Jugendlichen mit terroristischen Aktionen im Irak, wie sie der Vorsitzende im Ordnungsausschuss des Stadtrats von Riga, Andrejs Vilks, laut der lettischen Nachrichtenagentur Leta zog, wenig konstruktiv in einer brodelnden Atmosphäre.

Am 1. Mai vollzieht Lettland den EU-Beitritt, zeitgleich haben Vertreter der russischen Minderheit zu einer Demonstration gegen die Regierungspolitik aufgerufen. Es verspricht die größte seit der Unabhängigkeit des Landes zu werden. REINHARD WOLFF

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