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Archiv-Artikel

Shell-Chefs leiden unter Dominoeffekt

Mit dem vierten Rücktritt in wenigen Wochen versucht der britisch-niederländische Konzern einen Schlussstrich unter die Affäre um falsche Bewertung von Ölreserven zu ziehen. Doch noch drohen Prüfungen der Aufsichtsbehörden in den USA und Europa

AUS BERLIN STEPHAN KOSCH

Der Ölkonzern Royal Dutch/Shell kommt nicht aus der Führungskrise. Bereits das vierte Mitglied im Topmanagement musste gestern den Posten räumen. Finanzchefin Judith Boynton zog mit der Aufgabe ihres Amtes die Konsequenz aus der seit Monaten schwelenden Affäre um eine zu hohe Bewertung der konzerneigenen Öl- und Gasreserven. Bereits im März waren Konzernchef Philip Watts und der für die Sparte Förderung und Produktion zuständige Walter van de Vijver sowie sein Finanzchef wegen der notwendigen Wertberichtigung von ihren Ämtern zurückgetreten.

Zudem räumte der Konzern an, dass als Folge der Neubewertung die Gewinne der vergangenen vier Jahre um jeweils durchschnittlich 100 Millionen US-Dollar geringer ausgefallen seien als bisher angegeben. Das entspreche aber weniger als 1 Prozent der in der Zeit erzielten Erträge.

Hintergrund der Rücktritte ist eine falsche Bewertung der Öl- und Gasreserven des Konzerns, die Royal Dutch/Shell gestern bereits zum dritten Mal in diesem Jahr nach unten korrigieren musste. Im Januar hatte der niederländische-britische Ölmulti eingeräumt, dass diese Reserven um etwa 20 Prozent niedriger lägen als bis zu diesem Zeitpunkt angenommen. Grund war, dass die Bewertungskritereien nicht denen der US-Regulierungsbehörden entsprachen. Der Aktienkurs war daraufhin eingebrochen und dann auf eine Berg-und-Tal-Fahrt gegangen.

Der neue Konzernchef, Jeroen van der Veer, bemühte sich gestern, einen vorläufigen Schlussstrich unter die Affäre zu ziehen und das Vertrauen der Anleger wieder zu gewinnen. Mittlerweile seien 90 Prozent der Öl- und Gasfelder neu bewertet worden. „Trotz der Probleme der vergangenen Monate ist Shell ein solides und profitables Unternehmen“, versuchte van der Veer die Aktienmärkte zu beruhigen.

Um Glaubwürdigkeit zu gewinnen, veröffentlichte Shell auch die Ergebnisse eines Berichtes zum Thema, der von einer nach eigenen Angaben unabhängigen US-Anwaltskanzlei erstellt wurde. Danach wird der bisherigen Finanzchefin Boynton zwar kein direktes Fehlverhalten zugeschrieben. Allerdings bemängeln die Experten insgesamt Schwächen im Buchungs- und Kontrollsystem sowie unklare Verantwortlichkeiten im Finanzwesen des Unternehmens.

Boynton, die als enge Vertraute des früheren Vorstandsvorsitzenden Watts gilt, soll laut Medienberichten über diese Probleme schon länger informiert gewesen sein und dürfte daher auf ihrem bisherigen Posten untragbar geworden sein. Sie soll aber zunächst noch im Unternehmen beschäftigt bleiben.

Beobachter in London zeigten sich skeptisch, ob dem Konzern mit diesen Schritten tatsächlich ein Befreiungsschlag gelungen ist. Gegenwärtig untersuchen die US-Börsenaufsicht SEC und das Justizministerium die Vörgänge ebenso wie zuständigen Kontrollbehörden in Großbritannien und den Niederlanden. Zudem haben einige Aktionäre in den USA Klage eingereicht.