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Archiv-Artikel

Europa einig Truckerland

AUS GUBEN UWE RADA

Es gibt Tage, an denen ist Guben nicht wiederzuerkennen. Kilometerlang stauen sich dann die Lkws in der brandenburgischen Kleinstadt an der Grenze zu Polen. Mehr als 1.000 Lastkraftwagen werden seit vergangenen Sommer täglich hier abgefertigt, dreimal so viel wie in den Jahren zuvor.

Knapp zwei Wochen vor der Erweiterung der Europäischen Union wird über Steuervorteile und Marktchancen deutscher Unternehmer in Osteuropa diskutiert. Der Lkw-Verkehr, der im künftig größten Binnenmarkt der Welt unterwegs sein wird, erregt dagegen allenfalls die Gemüter der betroffenen Grenzgemeinden. Dabei steht Europa der Megastau erst noch bevor, fürchtet man beim Verkehrsclub Deutschland (VCD). „Durch die Osterweiterung wird es zu einer drastischen Erhöhung der Verkehrsaktivitäten insbesondere im grenzüberschreitenden Verkehr kommen“, sind sich die Verkehrsexperten des VCD sicher und kritisieren: „Für die meisten Entscheidungsträger scheint längst klar, dass diese Entwicklung hauptsächlich auf der Straße stattfinden wird.“

Den Prognosen von „Europa einig Truckerland“ kann nicht einmal Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) widersprechen: „Bis zum Jahr 2015 wird der Personenverkehr in Europa um 25 Prozent, der Lkw-Verkehr sogar um zwei Drittel zunehmen“, sagte Stolpe kürzlich auf dem „World Mobility Forum“ in Stuttgart. Im grenzüberschreitenden Verkehr zwischen „altem“ und „neuem“ Europa soll der Zuwachs sogar 200 Prozent betragen.

Da nutzt es auch nichts, dass mit dem Beitrittstermin am 1. Mai die Zollkontrollen entfallen und nur noch die Ausweispapiere der Fahrer kontrolliert werden. „Vom Bundesgrenzschutz“, sagt Gubens Pressesprecherin Gudrun Wendler, „haben wir das Signal bekommen: auch nach dem 1. Mai müssen wir mit kilometerlangen Staus rechnen.“

Truckstop für 1.000 Brummis

In Frankfurt (Oder) hat man sich auf das Leben mit dem Dauerstau bereits eingerichtet. Mit über einer Million Abfertigungen befindet sich hier der größte Grenzübergang zwischen West- und Osteuropa. Weihnachten vor zwei Jahren staute sich der Verkehr bis zum 50 Kilometer weit entfernten Autobahnkreuz Berlin-Schönefeld. Um wenigstens einen Teil der Lkw-Schlange von der Autobahn zu holen, wurde 1998 ein riesiger Stauraum eingerichtet, der Frankfurter „Truckstop“, auf dem 1.000 Brummis Platz haben.

„Den Truckstop werden wir auch über den 1. Mai hinaus betreiben“, sagt die Leiterin des Stauhofs, Silvia Gosemann. Um die Arbeitsplätze ihrer 35 Mitarbeiter fürchtet sie jedenfalls nicht. „Solange es die Personenkontrollen gibt, wird es auch den Stau geben.“

Versinkt das vereinigte Europa also bald im Dauerstau? Werden die Autobahnen und Landstraßen von Dänemark bis Italien, von Frankreich bis nach Polen von den Truckern erobert werden? Sind Bilder von Lkw-Schlangen wie in Gruben, Straßenblockaden wie in Österreich oder Polen bald Alltag auf unseren europäischen Fernsehbildschirmen?

Die Experten jedenfalls sind alarmiert. Der Präsident des Verbands der deutschen Automobilindustrie, Bernd Gottschalk, sagt: „Der Warenaustausch mit den östlichen Ländern läuft sehr gut. Aber wir haben die Augen davor verschlossen, was mit dem Verkehr passiert.“

Während der Autolobbyist Gottschalk vor allem auf den Bau neuer Straßen und Autobahnen setzt, sieht der Verbraucherschützer Lutz Ribbe genau darin das Problem: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten. Gerade in Europa, so Ribbe, habe sich dies in den vergangenen zehn Jahren bewahrheitet. So seien in Griechenland, Irland, Spanien und Portugal zwischen 1993 und 1999 fünf Milliarden Euro aus den EU-Fördertöpfen in Verkehrsprojekte gesteckt worden. Davon, so Ribbe, gingen 69 Prozent in den Bau von Autobahnen und Straßen, aber nur 23 Prozent in den Ausbau und Neubau von Bahnstrecken. „Man muss entweder ein Künstler oder ein Politiker sein, um aus diesen Zahlen eine Schwerpunktsetzung für den öffentlichen Verkehr ablesen zu können“, lautet Ribbes Fazit.

Für besonders folgenschwer hält es der Verbraucherschützer, der seit 1998 im Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU sitzt, dass diese Politik nun auch in den Beitrittsländern fortgesetzt werden soll. So wurde der Infrastrukturbedarf für die nach Osteuropa führenden „Transeuropäischen Verkehrsnetze“ (TEN) von einer Arbeitsgruppe des ehemaligen EU-Wettbewerbskommissars Karel van Miert auf rund 100 Milliarden Euro geschätzt. Gut die Hälfte davon soll der Straßenbau verschlingen. Schließlich sei das Autobahnnetz in den osteuropäischen Ländern nur ein Drittel so dicht ausgebaut wie in den alteuropäischen Ländern, heißt es zur Begründung. Noch großer ist das Missverhältnis zwischen Deutschland und Polen. Während es östlich von Oder und Neiße nur 500 Kilometer Autobahnen gibt, sind es in Deutschland 12.000 Kilometer.

Mit der Konzentration der Investitionen auf die Straßen, fürchtet Ribbe, werde auch in Osteuropa die Schiene an Bedeutung verlieren. Zwar lag der Anteil des Gütertransports mit der Bahn in Polen 1999 noch bei 43 Prozent und damit deutlich über den 15 Prozent in der Alt-EU. Doch damit wird bald Schluss sein, fürchtet Ribbe. Wegen ausbleibender Streckensanierung und wachsender Schulden stünden in Polen mehr als ein Viertel der Bahnstrecken vor dem Aus. Der Autoverkehr dagegen habe sich von 1990 bis 2000 verdoppelt und inzwischen eine Dichte wie in Griechenland erreicht.

Stolpe empfiehlt Ost-Maut

Andererseits aber wird nicht jede Autobahn, die man in Brüssel oder Warschau gerne sähe, tatsächlich gebaut. Selbst das größte polnische Prestigeprojekt, die Verlängerung der Autobahn vom Grenzübergang Frankfurt (Oder) bis Warschau, ist inzwischen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Ursprünglich war die Eröffnung 2006 vorgesehen. Doch das private Konsortium „Autostrada Wielkopolska“, das den Bau der mautpflichtigen Strecke finanzieren sollte, ist in Schwierigkeiten geraten.

Noch problematischer sieht es mit der öffentlichen Finanzierung aus. Zwar sollen von den insgesamt 37,5 Milliarden Euro, die zwischen 2004 bis 2006 aus Brüssel in die Beitrittsstaaten fließen, 21 Milliarden für Infrastruktur ausgegeben werden. Doch diese Summe reicht bei weitem nicht, um den von van Miert ermittelten Investitionsbedarf abzudecken. „Die Finanzierung der Infrastruktur“, sagt denn auch Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe den Beitrittsländern, „ist zunächst eine nationale Aufgabe.“ Stolpes Rat: Die Finanzierung solle stärker über Mauteinnahmen geregelt werden.

Die Staatskassen der Beitrittsländer aber sind leer. In Polen zum Beispiel belaufen sich die Ausgaben für Infrastrukturprojekte auf 1,5 Milliarden Euro jährlich, sagt Maciej Nowicki von der „EcoFund Foundation“. „Wir sind gar nicht in der Lage, mehr auszugeben.“

In den Beitrittsländern droht damit ein Teufelskreis. Der immer stärker anwachsende Verkehr rollt über ein hoffnungslos veraltetes Straßennetz. Was das bedeutet, zeigt die jährliche Unfallstatistik. In Polen sind in den vergangenen Jahren zweimal so viel Menschen pro 100.000 Einwohner auf den Straßen ums Leben gekommen wie in Deutschland. Die Zahl der Verkehrstoten ist in Osteuropa dreimal so hoch wie im Westen. Auf die Schiene kann der Verkehr aber nicht verlagert werden, weil die Bahnen verschuldet und die Strecken marode sind. Stilllegung statt Ausbau lautet hier die Devise.

Der Geschäftsführer der „Allianz pro Schiene“, Dirk Flege, konstatiert angesichts dieser Zahlen „eine alarmierende Fehlentwicklung im Verkehrsbereich“. Fleges Forderungen richten sich aber weniger an die Verkehrsminister in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Vielmehr müsse die EU-Kommission in Brüssel endlich umdenken und in den Planungen für die transeuropäischen Verkehrsnetze im TEN-Programm mehr auf die Schiene setzen. Darüber hinaus sollte die Europäische Union ihren Beitrittsländern mehr Geld zur Verfügung stellen. Fleges Begründung: „Die Schäden durch den wachsenden Lkw- und Personenverkehr kommen uns sonst nämlich alle noch viel teurer zu stehen.“

Eine Straße als Stauraum

Allzu viel Hoffnung, dämpft Verbraucherschützer Lutz Ribbe die Erwartungen, sollte man sich aber nicht machen. Aus den zahlreichen Papieren in Brüssel könnte man den Eindruck gewinnen, so Ribbe, „dass sich die EU der Tatsache bewusst ist, dass es mit dem Verkehr so nicht weitergehen kann“. Doch die tatsächliche Politik spreche eine andere Sprache. „In der Realität wiederholt sich in den Beitrittsländern genau das, was vor rund 15 Jahren nach der Wiedervereinigung im Osten Deutschlands zu beobachten war: ein radikaler Wandel im Verkehrssektor, weg von der Schiene und öffentlichem Personennahverkehr, hin zum Pkw und Lkw.“

In der Grenzstadt Guben weiß man, wovon die Rede ist. Wenn die neue Umgehungsstraße rund um das Stadtzentrum demnächst fertig gebaut sein wird, wird sie anders als geplant nicht von Pkw-Fahrern genutzt werden. Gubens Pressesprecherin Gudrun Wendler: „Aus der Umgehungsstraße machen wir einen Stauraum für Lkws.“