: Der Vater als Feind
Fritz Starke hat seine Kindheits- und Jugenderinnerungen aufgeschrieben. Ein Horror-Szenario der jungen BRD
Jahrgang 1941. Der Vater bei der SS, die Mutter der Auffassung: „Das Schlachtfeld der deutschen Frau ist der Kreißsaal.“ Wie gestaltet sich das Leben eines Menschen, dessen Geburt mit einer Lebensrune verkündet wird, die von 23 Todesanzeigen „gefallener“ Soldaten eingerahmt wird?
Es ist das Leben von Fritz Starke, heute Lehrer in Bremen. Unter dem Titel „Langer Schatten“ und der Namensvariation „Wilhelm Kraft“ hat er seinen Werdegang in kurzen Episoden aufgeschrieben. Von der Kindheit als „rassisch minderwertiger, dekadenter Brillenträger“ (väterlicher O-Ton) bis zur späteren Spurensuche im KZ. Manches kommt einem bekannt vor (etwa die mütterliche Maxime „Druck erzeugt Wärme, und Wärme erzeugt Geborgenheit“). Anderes könnte verharmlost als Alte-Zeiten-Schulgeschichten durchgehen (erstmal bekommt jeder eine Fünf – als „Vorabnote“, die gegebenenfalls aufgebessert werden kann). Etliche der geschilderten Szenen wirken auch einfach nur absurd: „Wer hat das Recht, Dir weh zu tun? – Allein Du, lieber Vater“.
Aber irgendwann wird einem schlecht. Denn der Vater – nach dem Krieg als ziviler Zahnarzt tätig – ist offenbar Sadist. Der seine Tochter bis zum Zusammenbrechen angeleint neben dem Motorrad herlaufen lässt. Oder die Söhne mit nacktem Körper vor den Bienenstock zwingt.
Es ist ein Einblick in ein Nachkriegsdeutschland, dessen „Erziehungsmethoden“ (eigentlich handelt es sich oft um veritable Folterungen) aus heutiger Sicht unvorstellbar erscheinen. Und doch, so die beunruhigend übereinstimmende Aussage von Autor, Verleger und anderen Generationsgenossen: Sie waren vom Prinzip her typisch.
Will heißen: Da schreibt sich nicht einfach einer seine schreckliche Kindheit von der Seele, sondern schildert eine Prägung unserer Gesellschaft. Bis hin zu Grotesken: In der Zeitung erscheint ein Artikel über den Vater als „Der freundliche Lipper“. Die Söhne müssen ihn prompt hundert Mal abschreiben und auswendig aufsagen – um sich anschließend verprügelt zu lassen.
Es ist ein knappes Buch, mit kurzen, fast schon prototypisch wirkenden Dialogen. Und trotzdem wirken diese Schlaglichter nicht plakativ. Starke beschreibt seinen Vater durchaus differenziert – als einen Mann, der Bedürftige gratis behandelt, im Lager aber nur angerostete Kneifzangen verwendet hat, denn „für Juden gibt es keine deutsche Zange“.
Man lernt einen Sohn kennen, der als Erwachsener erfährt, wie sein Vater eine jüdische Familie aus ihrer Krakauer Wohnung warf, um Platz für die eigene Sippe zu schaffen. Eine Mutter, die noch auf dem Sterbebett zu den „Kameraden“ hält. Und eine Auseinandersetzung, die für viele dieser Generation offenbar zum Lebensthema geworden ist.
„Uns lässt die Frage nach dem ‚Wie konnte es geschehen?‘ nicht mehr los“, schreibt Helmut Donat in seinem („nicht vorgesehenen“) Nachwort. Und darin scheint auch eine sehr persönliche Angst zu stecken: zu werden wie der Vater. Dessen Charakter im Übrigen durchaus durchblitzt, wenn der Student Wilhelm einen als Kommunisten verschrieenen Professor im Polizeigriff aus dem Hörsaal zwingt. Später wird dieser sein Wahl-Vater. Henning Bleyl
Fritz Starke stellt sein Buch (144 Seiten, Donat-Verlag) morgen um 19 Uhr in der Buchhandlung Leuwer, Am Wall 171 vor. Die Einführung macht Ex-Bildungssenator Horst v. Hassel