: berliner szenen Liebeskrank im Winter
Ewa versuchte zu singen
Wir teilten uns die Zigaretten. Den Alkohol trank ich allein, er durfte nicht, weil er auf Antidepressiva war. Sie machten ihn munter. Während des Kartenspiels ließ er Videos auf YouTube laufen. Die Bands, die er mochte, waren solche, die sich Anfang der Achtzigerjahre auf die Sechzigerjahre bezogen. Coole Typen, mit denen wahrscheinlich kaum zu reden war, denn Reden war nicht cool. Schließlich zeigte er mir den einzigen Mitschnitt eines Konzerts der Band unserer gemeinsamen Exfreundin. Die spielte ein Lied namens „Likely To Be Dropped“, es klang sehr trashig. Mein zugereister Freund gewann das nächste Spiel.
Wir spielten Bauernskat. Dann zeigte er mir die Webseite seines Lieblingsmodels, eines polnischen Busenwunders. Sie hieß Ewa Sonnet und versuchte zu singen. Mein Freund R. hielt alles für echt. Er war auf Besuch, um zu vergessen, dass seine Freundin ihn eben geschasst hatte. Liebeskrank im Winter. Es ist nicht schön, in der Kälte allein zu sein. Vor dem Fenster zog Schneeregen vorbei. Kreuzberg schien müde zu sein an diesem Abend, es hätte noch eine Party auf dem Prenzlauer Berg gegeben, aber wir waren zu kaputt, um noch auszugehen.
Die vorigen Nächte waren lang, besonders für mich, der ich keine Antidepressiva nahm. Wir unterhielten uns über die Liebe, ein Thema, von dem ich wegwollte. Es gab meinerseits nicht viel beizusteuern außer Erinnerung, von Gefühlen hatte ich die Ahnung verloren. Mein Freund allerdings war voll davon. Manchmal hatte ich den Eindruck, es ging dabei nur um Sex, aber er trennte das nicht. Er vermisste den Sex genauso wie die täglichen Anrufe. Als er wieder wegfuhr, schaute ich nach, was „Likely To Be Dropped“ hieß. Ich hasste den Song. RENÉ HAMANN