: Im Flachland ein Sherpa
AUS WOLFRATSHAUSEN UND FRANKFURT (ODER) JÖRG SCHALLENBERG UND KIRSTEN KÜPPERS
Der Hofreiter Toni hat die Sache im Griff. Mit wohldosiertem Brüllen verkündet er der großen Gruppe um ihn herum immer wieder, dass er Biologe und darüber hinaus Botaniker sei – und deswegen genau der Richtige, um ihnen die Renaturierung der Isarauen hier bei Wolfratshausen, knapp 40 Kilometer südlich von München, zu erklären. Wobei er gern einfließen lässt, was für einen verdammten „Saustall“ der Mensch hier angerichtet hat. Recht hat er, natürlich. Außerdem ist der Hofreiter Toni, so brüllt es aus ihm heraus, „seit Urzeiten bei den Grünen hier dabei“ – obwohl er dafür ziemlich jung ausschaut.
Als altgedienter Parteigänger hat er nicht nur einen scharfen Blick für die Entwicklung der Flussvegetation, sondern auch für die Wirksamkeit angereister Politprominenz. „Diesen Spaziergang in die Isarauen haben wir ja schon mal mit Rezzo Schlauch gemacht“, verkündet er also ungeniert. „Aber da sind nur halb so viele Leute gekommen.“
An diesem Samstagnachmittag haben sich auf dem Parkplatz des Gasthofes Pupplinger rund 80 wanderwillige Interessierte eingefunden, um den berühmten Gast zu sehen: Reinhold Messner, Bezwinger aller Berge über 8.000 Meter, Entdecker des Yeti und parteiloser Europa-Abgeordneter auf der Liste der Grünen.
Messner hat sich einen Tag Zeit genommen, leichtes Schuhwerk angezogen und ein Sakko übergeworfen, um die bayerischen Gesinnungsgenossen zu Beginn ihres Europawahlkampfes zu unterstützen. Am Sonntag wird er in Brandenburg erwartet.
Eigentlich hätte er in den kommenden Wochen ständig in Bayern auf Achse sein sollen. Lange Zeit war er als Europakandidat für die bayerischen Grünen im Gespräch. Doch trotz namhafter Fürsprecher wie Daniel Cohn-Bendit hielt sich ein stetiges Misstrauen innerhalb der Bundespartei gegen den berühmten Polit-Außenseiter. Die kritischen Stimmen wollten einfach nicht verstummen, bis Messner schließlich erklärte, dass er doch lieber gar nicht mehr fürs Europaparlament kandidieren wolle, weil er sich anderen Aufgaben widmen möchte, vor allem einem neuen Bergmuseum in seiner Heimat Südtirol.
Vielleicht tragen auch die langsam mahlenden Mühlen im EU-Parlament und in den grünen Gremien Schuld. Messner jedenfalls hat festgestellt: „Ich mache lieber etwas Praktisches. Es liegt mir mehr, eine klare Vision im Kopf zu haben und die dann auch umsetzen zu können.“
Für die Grünen könnte dieser Entschluss im Wahlkampf von Nachteil sein, denn Messners Besuch in Wolfratshausen zeigt, wie sehr sich mit ihm, strategisch gesehen, Popularität und Authentizität in umweltpolitischen Fragen verbinden lassen. Dass 80 Leute zu einem Grünen-Wandertag erscheinen, ist im reichen CSU-dominierten Oberbayern nicht selbstverständlich.
Das weiß auch Sepp Daxenberger. Der bayerische Grünen-Chef, der die Bergsteigerlegende begleitet, hat ein paar Sorgenfalten aufgelegt, als er darüber sinniert, „dass man mit Messner genau die Leute erreicht, die für Grüne sonst nicht aufgeschlossen sind. Der wird auch im Trachtenverein respektiert.“ Oder, wie es der ältere Mann mit Wanderstock formuliert: „Wenn der bei denen ihre Partei ist, können die so schlecht nicht sein.“
Der Tross setzt sich in Bewegung. Der Hofreiter Toni spricht, Reinhold Messner hört zunächst nur zu. Doch auch wie er so schweigend entlang der Isar schlendert, strahlt er für die Ökospaziergänger eines aus: Glaubwürdigkeit. Der hat die höchsten Berge bezwungen, ohne Sauerstoff, der ist echt. Dem kann man glauben, wenn er über die Umweltzerstörung in den Alpen wettert. „Recht so, Herr Messner, man muss kämpfen, immer kämpfen, das weiß ja keiner besser als Sie“, sagt der Mann mit dem Wanderstock, als er ein Stück neben dem bärtigen Star des Tages läuft. Der blickt wie immer ernst, als stünde er vor der vereisten Eiger-Nordwand.
Mit der Isar kennt sich Messner nicht ganz so gut aus wie mit den Alpen, aber wenn er in den Pausen, die zwischen den lautstarken Erklärungen vom Hofreiter Toni bleiben, etwas von der Verschandelung der Etsch in seiner Heimat murmelt, nicken die Umstehenden beifällig.
Überhaupt Südtirol: Messner ist immer dann froh, wenn er von jedem Thema aus schnell in sein eigenes Revier überlenken kann, um von dort aus die Welt zu erklären. Nach dem Isarspaziergang hält er im Biergarten einen kurzen Standardvortrag über die Alpen als Wirtschaftsraum und Naturparadies – und dass beides kein Widerspruch sein muss. Wenn man es denn so macht wie der Messner mit seinem Biohof, an dem sich die Notwendigkeit eines nachhaltigen Tourismus ebenso veranschaulichen lässt wie die Vorteile regional beschränkter Warenkreisläufe. Irgendwie dreht sich immer alles um Messner selbst – aber vielleicht macht gerade das seine Überzeugungskraft aus.
So lauschen die Jüngeren gespannt, während vor allem die Älteren in den Kniebundhosen bereits die Bergbücher zum Signieren aus den Rucksäcken kramen. Alle aber klatschen Beifall, als Messner die mangelnde Volksnähe der EU-Abgeordneten kritisiert – obwohl er doch selbst noch einer ist. Für die Besucher im Gasthof Pupplinger ist „der Reinhold“, dieser ewige Naturbursche, längst einer von ihnen. Genauso wie der Hofreiter Toni eben.
In der Kletterhalle des Alpenvereins Frankfurt (Oder) gibt es keinen Hofreiter Toni. In der Kletterhalle des Alpenvereins Frankfurt (Oder) gibt es eine Grünen-Europakandidatin, die nervös auf und ab läuft. Sie heißt Elisabeth Schroedter, und sie hat ein Problem. Sie ist hier nicht besonders bekannt. Vielleicht lässt sich das heute ändern.
Die Kletterhalle liegt in einem schäbigen Gewerbehof hinter der Aldi-Filiale. Sie hat keine Fenster. Wenn die Sonne scheint und es einen Anlass gibt, grillen die Männer draußen im Hof Würstchen, die Frauen bringen Nudelsalat mit.
An diesem Sonntagnachmittag ist Reinhold Messner der Anlass. Er wird gleich kommen, um in Brandenburg Wahlkampf zu machen. Für Europa und für die grüne Partei. Zwei Themen, die bei den Menschen in dieser Region nicht besonders beliebt sind.
Bei der letzten Landtagswahl haben weniger als zwei Prozent der Menschen hier die Grünen gewählt. An der EU-Osterweiterung stört die Brandenburger die Möglichkeit, dass Billiglohnkräfte aus Osteuropa die wenige Arbeit wegnehmen, die ihnen noch geblieben ist. Das Beitrittsgebiet ist nah. Die Polen müssen nur über eine Brücke gehen, um in Frankfurt zu stehen. „Ich bin sehr skeptisch, wie das wird“, sagt eine junge Frau. Für Reinhold Messner ist sie trotzdem gekommen.
Es hat in der Zeitung gestanden, dass der berühmte Bergsteiger den Alpenverein besucht. Jetzt drängen sich rund 150 Menschen um die Kletterwände in der Halle, viele Jugendliche und Kinder sind da. Die meisten haben Fotoapparate mitgebracht.
Und tatsächlich ist Reinhold Messner ja eine Erscheinung. Wie er plötzlich mitten in der dunklen Halle steht, mit wucherndem Bart und Südtiroler Akzent. Ein Mann aus den Bergen, der Sätze sagt wie: „Ich bin ein grüner Geist.“ Oder „Ich trete zwar nicht mehr an, aber ich will den Grünen helfen.“ Es sind Bekenntnisse, die auch Elisabeth Schroedter glücklich machen. Sie lacht laut, drängelt sich vor. Vielleicht kann Reinhold Messner sie hier und heute bekannter machen. Vielleicht kann Reinhold Messner sogar die jungen Leute kriegen.
Aber auch in Frankfurt (Oder) ist Reinhold Messner vor allem als Bergsteiger prominent. Als Politiker kennen ihn nur wenige. Und auch hier werden ihn nicht viele als Politiker kennen lernen, denn mit politischen Äußerungen hält er sich heute zurück. Vielleicht, weil er selbst nicht mehr als Kandidat antritt. Wahrscheinlich will er hier im Osten einfach nichts falsch machen. „Ich will ein Bewusstsein für die Umwelt schaffen“, sagt Messner.
Zur Erweiterung der EU erklärt er: „Berge waren nie ein trennendes Element, sondern etwas Verbindendes.“ Es gibt keine Berge in Frankfurt (Oder), nur diese dunkle Kletterhalle. „Ich war schon mit vielen Polen klettern“, sagt Messner. Dann redet er weiter. Von Dingen, die ihm näher liegen. Von Gletschern, von den Dolomiten, dem Yeti und von der Wüste.
Es sind die Superlative, die funktionieren. Die jungen Zuhörer gucken auf den Mann mit den wilden Haaren und der tibetischen Kette um den Hals, sie sehen: Hier steht Reinhold Messner und das Abenteuer ist nah. Messner erzählt weiter. Er spricht von den existenziellen Erfahrungen am Berg und in der Antarktis, von Geheimnissen und verwunschenen Steinen. Ab und zu unterbricht Elisabeth Schroedter mit einem eiligen: „Da sind wir auch dafür.“
Die Mitglieder des Alpenvereins hören nicht auf die Kandidatin, sie schauen auf den Mann aus Südtirol. Auf das Erlebnis, das man den anderen erzählen kann, wenn man morgen wieder an der Bushaltestelle wartet. Auf einen jener Augenblicke, in denen sich ein gewöhnlicher Sonntag in etwas Besonderes wendet. Es ist ein Gefühl, das für einen angenehmen Nachmittag reicht. Die Kinder holen sich Autogramme, der Nudelsalat schmeckt nach Sommer, der Vorsitzende des Alpenvereins bringt Messner eine Bratwurst.
Wenige Minuten später scheucht der Pressesprecher die Berglegende vom Hof. Sie müssen jetzt weiter nach Dresden. Als der Wagen davonbraust, sammeln die Helfer des Alpenvereins die ersten leeren Bierflaschen zusammen, räumen Plastikschüsseln in Stoffbeutel. Der Moment, wenn das Normale zurückkehrt. Wenn aus einer schönen Bühne wieder ein schmutziger Gewerbehof wird. Morgen ist Montag.