: „Auschwitz war eine deutsche Erfindung“
Ein deutsch-polnisches Buch dokumentiert den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 anhand der Geschichten Überlebender. Zur Präsentation des Bandes dikutierten Polen und Deutsche über die Tragödie der Schoah und die Verantwortung dafür
VON JAN SÜSELBECK
Am 19. April 1943 wurde das Warschauer Ghetto „liquidiert“. Die letzten 60.000 Bewohner wussten, dass man sie in den Gaskammern der Vernichtungslager ermorden wollte – genauso wie alle anderen Juden, die man vor ihnen deportiert hatte. Als die Deutschen und ihre Hilfstruppen in das ummauerte Ghetto marschierten, versuchten die Verfolgten unter Einsatz ihres Lebens ein Zeichen dafür zu setzen, dass sie sich selbst unter unvorstellbar schweren Bedingungen gegen ihre Peiniger zu wehren wussten. Fast alle Aufständischen kamen dabei um.
Nun ist in einer – in dieser Form bisher einzigartigen – Kooperation des Berliner Verbrecher Verlags und des Warschauer Verlags Wydawnictwo Jaworski ein zweisprachiger Band erschienen, der sich aus verschiedenen Perspektiven mit diesem Ereigniss befasst. Das Buch dokumentiert eine Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Ghettoaufstands, die vergangenes Jahr im Rathaus Schöneberg stattfand. Die „gruppe offene rechnungen“, das Berliner Bündnis gegen IG Farben und der Verband der jüdischen Kriegsveteranen und -versehrten Polens hatten damals zu entsprechenden Gesprächsrunden geladen. Äußerst bewegend waren die Berichte jüdischer Überlebender des Aufstands, die nun im Buch nachzulesen sind.
Am Mittwochabend wurde der Band im Polnischen Institut Berlin vorgestellt. Einige der letztjährigen Gäste diskutierten dabei über das aktuelle deutsch-polnische Verhältnis und das Problem des virulenten Antisemitismus in beiden Ländern.
Der polnische Botschaftsrat für Berlin, Jan Rydel, begann mit einem ungewöhnlich offenen Grußwort. Die „Tragödie der Schoah“ sei im heutigen Polen durch die „offene und ehrliche Selbstbefragung“ nach dem berüchtigten Jedwabner Pogrom vom 10. Juli 1941 zu einer „zentralen ethischen und intellektuellen Frage“ geworden. Nach dem Einmarsch der Deutschen hatten die polnischen Bewohner Jedwabnes ihre jüdischen Mitbewohner gefoltert und ermordet. Die daran anknüpfende Debatte um das lange verdrängte Thema des polnischen Antisemitismus werde mittlerweile nicht nur an den Unis und in der Politik, sondern auch in den Familien geführt, erklärte Rydel. Selbstkritisch räumte er ein, die Polen seien „noch nicht so auf Correctness trainiert“, weswegen es in der nationalen Debatte auch immer noch viele „Misstöne“ gebe.
Hier knüpfte die Gesprächsrunde an. Ludwik Krasucki, Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Kriegsveteranen und -versehrten aus Polen, und Marian Turski, Vorsitzender des Jüdisch-Historischen Instituts Warschau, zeichneten ein differenziertes Bild der letztjährigen polnischen Antisemitismusdebatte. Krasucki betonte, der „alte Antisemitismus“ in Polen wese zwar fort, doch verglichen mit dem Rest Europas sei die Situation doch vergleichsweise ruhig.
Jörg Rensmann von der „gruppe offene rechnungen“ erinnerte in dem Zusammenhang daran, dass in Deutschland mittlerweile 65 Prozent der Befragten angeben, sie hielten Israel für die größte Bedrohung des Weltfriedens. Alexander Brenner von der Jüdischen Gemeinde brachte die Diskussion über das Phänomen wohlfeiler deutscher Projektionen, die eigene manifeste Probleme mit dem Antisemitismus gerne benachbarten Ländern anlasteten, auf die griffige Formel: „Der Antisemitismus ist sicher keine deutsche Erfindung, aber Auschwitz war es.“ Dies gerate bei vielen deutschen Politikern in ihren geschichtsrevisionistischen Äußerungen leider zusehends in Vergessenheit.
Schließlich stellte der ehemals im KZ Stutthof inhaftierte Krasucki klar, dass auch die Forderungen deutscher Vertriebener an Polen, man möge ihnen endlich „Entschädigungen“ und „Wiedergutmachung“ leisten, eine perfide Geschichtsverdrehung darstellten. Man solle doch „um Gottes willen die Reihenfolge der Verbrechen“ nicht aus den Augen verlieren. Er habe größtes Verständnis für die Leiden deutscher vergewaltigter Frauen und deutscher Flüchtlinge. Doch dann denke er an die 36 Mitglieder seiner Familie, deren Problem es nicht gewesen sei, dass sie „ein neues Leben ohne Porzellanteller beginnen mussten“, sondern dass sie in den Gaskammern der Deutschen ermordet wurden. Der nun vorliegende Band mag helfen, die Erinnerung daran nicht verblassen zu lassen.
„April 1943/kwiecien 1943“. Berliner Bündnis gegen IG Farben/gruppe offene rechnungen. Verbrecher-Verlag; Wydawnictwo Jaworski. 13 Euro