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Archiv-Artikel

Das Rädchen in der Maschine

Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan wandelt neuerdings auf Solopfaden. Doch bei seinem Tourstart in Berlin zeigte sich: Seine Fans erlauben es ihm nicht, aus dem Schatten seiner Band herauszutreten

Wie soll man sich als Künstler beweisen – wenn einem die Fans alles abkaufen?

von SUSANNE MESSMER

Eine Band ist wie eine Familie. Nicht nur intern macht sich dieses Muster bemerkbar – auch das Publikum gestattet es einzelnen Mitgliedern nur ungern, aus ihren Rollen auszubrechen. So erging es den Beatles oder Velvet Underground nach ihrem Ende, den Ärzten, bevor sie sich wieder vereinigten, oder den Rolling Stones mit ihren Soloprojekten. Und so ergeht es nun Depeche Mode: Der Einzelne wird immer im Kontext der Band betrachtet.

Es war nicht einmal ein schlechtes Konzert, das Dave Gahan, zum ersten Mal solo, am Dienstagabend in der ausverkauften Berliner Columbiahalle gab – eigentlich eine Art Feuerprobe für den Sänger von Depeche Mode, aus dessen Feder nicht eines der Lieder stammt, mit dessen Interpretation er berühmt geworden ist, und der jetzt für sein erstes Soloalbum zum ersten Mal etwas Eigenes geschrieben hat. Doch noch bevor Dave Gahan die Bühne betrat, war das Publikum bereits bierseelig, und das bei hundertprozentiger Luftfeuchtigkeit: Laolas und Sprechchöre wurden gebildet, und stellte sich ein Depeche-Mode-Fan aus Platznot dem anderen versehentlich auf den Fuß, entschuldigte er sich ausführlich, und so entstanden umgehend neue Bekanntschaften. Dave Gahan könnte wohl noch das Gurgeln seiner Klospülung sampeln – seine Fans, die treuesten Fans, die es je gegeben hat, würden auch das noch begeistert beklatschen.

Wenn einem als Künstler aber einfach alles abgekauft wird, wie soll man da wissen, was gut ist und was nicht? Dave Gahans Soloalbum ist weit davon entfernt, ein großer Wurf zu sein. Es gibt drei, vier schöne Stücke, die so gut sind wie viele von Depeche Mode. Der Rest aber plätschert vor sich hin, ohne Pointe: Ein bisschen Synthiepop hier, ein paar Bluesgitarren dort, und auch die jetzt eigenen Texte über Reue und andere Aufräumarbeiten hat man bei Depeche Mode schon oft gehört.

In Interviews betont Dave Gahan neuerdings oft, wie wichtig ihm die Selbstironie sei. Wie David Bowie sich seinen Ziggy Stardust erschaffen habe, so wolle auch er künftig neben sich stehen und das Authentische abkoppeln. Ach, hätte sich Dave Gahan die alten Videos und Konzertmitschnitte von David Bowie doch nur einmal genauer angeguckt! Denn wie er da auf der Bühne herumtobt und gleich im ersten Lied seinen Oberkörper entblößt, sich an die Eier fasst und das Mikro schwenkt, als wolle er damit seinen Gitarristen erschlagen – das sieht nicht elegant aus. Eher erinnert das an schwitzenden Monsterrock als an David Bowie. Und auch wenn er dabei über sich selbst lacht, so gerinnt doch die Karikatur seiner selbst, die bei den letzten Depeche-Mode-Konzerten noch witzig war, jetzt zur Karikatur.

Trotzdem: Sein Publikum nimmt Dave Gahan alles ab. Jeder Text auf dem neuen Album, das erst seit einer Woche auf dem Markt ist, wird von A bis Z mitgesungen. Der Chor wird nur dann noch ein wenig lauter, als Dave Gahan dazu ansetzt, auch eine Hand voll Depeche-Mode-Songs zu singen – fast schon ein bisschen makaber, wie er den Fans entgegensingt: „It’s just a question of time“, einen siebzehn Jahre alten Song. Dabei kaspert er so verzweifelt gutlaunig herum wie ein verunsicherter Selbstmörder, kurz bevor er zum Sprung von der Brücke ansetzt. Und als er eine leise Akustikversion eines der größten Hits von Depeche Mode spielen will, „Enjoy The Silence“, kommt er gar nicht zum Zug, weil ihn seine singenden Fans grölend übertönen.

Die tragische Unmöglichkeit, aus dem Altbekannten auszusteigen, erinnert an Martin Gores Soloauftritt in Hamburg vor ein paar Wochen. Er, das wichtigste Bandmitglied, der alle Depeche-Mode-Lieder geschrieben hat, hat gerade sein zweites Soloalbum mit Coverversionen herausgebracht – ein Album, mit dem er nicht wie sein Kollege beweisen muss, dass er auch anders kann, sondern Exegeten zeigen will, wo seine Einflüsse liegen. Doch auch Martin Gore hatte in Hamburg keine Chance, als Individuum aus dem Schatten von Depeche Mode zu treten. Immer wieder wurde er aufgefordert, deren alte Hits zu spielen.

Lieber Dave Gahan, lieber Martin Gore, ihr habt es bewiesen. Tote leben länger. Deshalb tut euch bitte wieder zusammen und lasst Depeche Mode weiterleben. Mit einem real existierenden Mythos, auch das habt ihr gezeigt, lässt es sich leichter neu erfinden als mit einer Solokarriere, die in den Augen der Fans nur die Zeit zum nächsten Depeche-Mode-Album überbrückt.