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Archiv-Artikel

„Wir brauchen Autos für Kicks und Thrills, nicht zur Beförderung“ sagt Micha Hilgers

Jährlich sterben in Deutschland mehr als 6.000 Menschen im Verkehr – und alle finden das normal. Warum eigentlich?

taz: Noch immer sterben in Deutschland tagtäglich fast 20 Menschen im Straßenverkehr. Warum tun wir nicht mehr dagegen?

Micha Hilgers: Weil wir uns einfach nicht vorstellen, dass wir selbst im Straßenverkehr umkommen. Mit dem Auto zu fahren ist lustvoll. Die Blechhaut vermittelt uns ein Gefühl von Schutz und Sicherheit. Außerdem haben wir buchstäblich das Steuer in der Hand – und die Illusion, wir könnten unser Schicksal selbst bestimmen …

und der Verkehrstod wird schlichtweg als Pech empfunden, wie naturgegeben.

Die meisten nehmen das so wahr. Das Auto ist eben viel mehr als nur ein Beförderungsmittel. Es ist ein Symbol für Abenteuer, Freiheit, Freizeit, Wohlstand, persönliche Auszeit. Außerdem ist es eine soziale Visitenkarte, und die gibt man nicht so einfach auf. Der Gewinn wird persönlich empfunden, die Bedrohung nicht.

Wer verhält sich denn im Verkehr besonders aggressiv?

Besonders anfällig sind die jungen männlichen Fahranfänger, wobei die Frauen allerdings aufschließen. Und auch Männer ab 40 fahren aggressiv – das sind übrigens jene, die die Verkehrspolitik machen. Das Fatale im Verkehr ist: Ein aggressives Gruppenmitglied steckt die anderen an, ein defensives nicht. So wird auf der Straße mitnichten Aggression abgebaut, sie wird aufgebaut.

Also geht es im Kern um das ungebremste Ausleben überkommener Männlichkeitsbilder?

Ja. Auf der Straße wird Machogebaren, Überlegenheit als Kavaliersdelikt ausgelebt. Sie können ihren Chef rechts überholen, auf der sozialen Karriereleiter schaffen sie das niemals. Das ist ein Freiraum. Sie haben Kicks, Thrills, Rauschgefühle. Die Vernunft funktioniert schlecht, wenn man von Affekten überschwemmt wird. Dann tun manche Menschen sehr aggressive Dinge, die sie auf der Rolltreppe nie wagen würden.

Wieso fahren wir eigentlich immer schneller?

Straßenverkehr ist ein Gruppenphänomen. Wer mitschwimmen und nicht bedrängt werden will, braucht immer schnellere Autos.

Warum fällt es der Gesellschaft so schwer, Verkehrsrowdys wirklich zu ächten?

Die mächtige Automobillobby will das nicht, weil sie ihre besonders teuren, PS-starken Autos nicht mehr so gut verkaufen könnte. In Holland zum Beispiel gilt ein Tempolimit, und große Pkw verkaufen sich schlechter. Fahren Sie aber in Amsterdam einen Radler um, dann ist das eine Todsünde.

Warum ist das in Deutschland anders?

Weil es in Deutschland keine Fahrradkultur wie in Holland gibt. Wir haben eine automobilistische Geschichte: Hitler versprach jedem seinen Volkswagen, lieferte sie allerdings nie aus, weil alle zum Militär gingen.

Auf der Straße sind immer und überall Bedrohungen. Warum haben wir vor Terroristen Angst – aber nicht vor den Dränglern auf der Autobahn?

Die Terrorgefahr ist allgegenwärtig und führt zu einem generellen Ohnmachtsgefühl. Den Idioten im Opel vor Ihnen oder im BMW hinter Ihnen, den können Sie konkret ausmachen. Wenn Sie die hinter sich gelassen haben, lässt die Angst nach. Damit wähnen Sie sich im Besitz einer Kontrolle, die Sie subjektiv nicht haben, wenn es um Anschläge geht.

Aber im Verkehr zu sterben ist viel wahrscheinlicher, als einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen.

Das ist selbst in Israel noch richtig – spielt aber psychologisch keine Rolle. Denn bei Terror ist noch ein anderes Motiv wichtig: die Angst vor dem Bösen, dem Unkontrollierbaren, dem Fremden. Es kann einen jederzeit treffen. Im Straßenverkehr haben Sie es nur mit einem Arschloch zu tun.

Gibt es eigentlich eine Chance für eine Wende in der Verkehrspolitik – weg vom Auto?

Als Rot-Grün kam, hofften viele auf eine neue Vision für lebenswerte Innenstädte, mit verkehrsberuhigten Zonen, in denen flaniert wird, mit Wohnvierteln, in denen Straßenfeste gefeiert werden. Diese Aufbruchstimmung ist aber verpufft. Mit dieser Regierung sind keine verkehrspolitischen Innovationen mehr zu erreichen.

Wieso nicht?

Das Erste wäre ein Tempolimit, das an der SPD scheitert. Mehr Geld für die Bahn scheitert an leeren Kassen, Verkehrsberuhigung auch am Widerstand der Bevölkerung, weil sich niemand den konkreten Gewinn an Lebensqualität vorstellen kann, den Verlust bei Restriktionen aber schon. Denn selbst wenn der Beförderungswert des Autos im Stau gleich Null ist, bleibt der Symbolwert unberührt.

INTERVIEW: HANNA GERSMANN