: Verrat ist eine gute Sache
Wer geheime Atomwaffenprogramme der Öffentlichkeit bekannt macht, handelt mutig und zukunftweisend. Der Israeli Mordechai Vanunu kann für uns alle ein Vorbild sein
Alles, was Mordechai Vanunu in seinem Leben besaß, setzte er bewusst aufs Spiel, um sein Land und die Welt zu alarmieren: um sie vor einer weiteren Steigerung der nuklearen Gefahren unserer Zeit zu warnen. Der ehemalige Ingenieur in der israelischen Dimona-Atomanlage lancierte Informationen über Israels Atomwaffenprogramm durch eine Veröffentlichung in einer britischen Zeitung an die Weltöffentlichkeit und zahlte dafür einen hohen Preis.
Um seiner mutigen und zukunftweisenden Tat willen hat er eine Last auf sich genommen, die in mancher Hinsicht schlimmer ist als der Tod. Nachdem er 1986 in Italien vom israelischen Geheimdienst entführt wurde, verbrachte er achtzehn Jahre im Gefängnis Aschkelon, mehr als elf Jahre davon isoliert in einer zwei mal drei Meter großen Zelle. Vorgestern ist Vanunu endlich entlassen werden.
Vanunu tat exakt das, was er tun musste und was andere tun sollten. Er lüftete das Geheimnis, dass sein eigenes Land wie die Vereinigten Staaten, wie Russland und verschiedene andere Mächte Atomwaffen entwickelt und in einem Umfang gelagert hat, der jeglichen angenommenen Bedarf für Zwecke atomarer Abschreckung weit übersteigt. Offiziell hat Israel bis heute nicht einmal die Existenz seiner Atomwaffen zugegeben. Seiner Beschaffenheit und Größenordnung nach dient dieses Atomwaffenprogramm eindeutig dazu, den Ersteinsatz von Atomwaffen gegen konventionelle Streitkräfte androhen und gegebenenfalls auch durchführen zu können. Was Vanunu enthüllte, war ein Programm für israelische Angriffe mit hunderten taktischen Atomwaffen.
Zweimal innerhalb der letzten 13 Jahre gab es Grund zu der Befürchtung, dass die denkbar schlimmsten Konsequenzen der amerikanischen und israelischen Nuklearpolitik plötzlich eintreten könnten. Taktische Atomwaffen Israels oder der USA – oder gar beider Länder – hätten durchaus gegen den Irak zum Einsatz kommen können, hätte der Golfkrieg des Jahres 1991 oder die letztjährige US-Invasion Saddam Hussein veranlasst, Kurzstreckenraketen mit chemischen Sprengköpfen gegen Israel oder gegen amerikanische Streitkräfte zu starten. Beide Länder hatten angedroht, dass ein solcher Schritt zur Vernichtung des Irak führen würde, zur Zerstörung seiner Gesellschaft. Dies bedeutete ganz eindeutig die Drohung, Atomwaffen einzusetzen.
Gleichgültig wie stark Israel militärisch ist, in einem nuklear gerüsteten Nahen Osten könnte nichts seine Städte vor der Möglichkeit völliger Vernichtung schützen, und dies nicht allein im Krisen- oder Kriegsfall, sondern tagtäglich. Für kein anderes Land dieser Welt ist die Verhütung nuklearer Weiterverbreitung wichtiger. Doch in Wirklichkeit läuft Israels geheime Nuklearpolitik, genau wie die aller anderen Atommächte, eher auf die Förderung als auf die Verhütung nuklearer Weiterverbreitung hinaus.
Ohne öffentliche Mobilisierung und öffentlichen Druck dürfte sich daran kaum etwas ändern. Es kommt also auf Wachsamkeit und Öffentlichkeit an, aber jedes dieser Länder, nicht allein Israel, hat Praktiken der Geheimhaltung, Irreführung und Mehrdeutigkeit entwickelt, die eine öffentliche Erörterung behindern. In keinem einzigen Fall kam die Entscheidung, Nuklearmacht zu werden, auf demokratische Weise zustande, und bis zum heutigen Tage hat es in keinem dieser Staaten jemals eine angemessen informierte öffentliche Diskussion über nuklearstrategische Fragen gegeben.
Käme es zu einer solchen Debatte, so könnten wohl weder Israel noch die Vereinigten Staaten, Russland, Großbritannien, Frankreich oder China die eigene Bevölkerung oder den Rest der Welt davon überzeugen, dass sie einen stichhaltigen legitimen Grund dafür haben, so viele Atomsprengköpfe zu besitzen.
Kein anderer Bereich der Politik von Nuklearmächten bedürfte dringender der Überprüfung und einer nüchternen gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung. Doch die konnte nicht entstehen, weil die israelische Regierung eine Politik der Zensur, der Geheimhaltung, der Irreführung und des Abstreitens verfolgte. Insofern haben sich Vanunus Hoffnungen nicht erfüllt. Aus eigener Erfahrung weiß ich aber, dass anfängliche Anzeichen des Scheiterns, selbst über eine Reihe von Jahren hin, irreführend sein können.
Wir brauchen dringend weitere Vanunus. Das gilt nicht nur für Israel; es gilt für jede erklärte oder unerklärte Atommacht: also für viele virtuelle Nuklearmächte wie Japan und Deutschland, die über Hochtechnologie und Bestände an spaltbarem Material verfügen. Wer könnte daran zweifeln, wie wertvoll für die internationale Sicherheit und die Unterbindung der nuklearen Weiterverbreitung ein pakistanischer, indischer, irakischer, iranischer oder nordkoreanischer Vanunu wäre, der vergleichbare Enthüllungen über Art und Umfang des nuklearen Rüstungsprogramms seines Landes an die Öffentlichkeit brächte?
Aber die Notwendigkeit, solche Geheimnisse bekannt zu machen, beschränkt sich nicht auf Bürger von Schurkenstaaten, die von Nuklearmächten anmaßenderweise so etikettiert werden. Jede Nuklearmacht hat geheime Strategien, Ziele, Programme, Pläne, die ihre eigene Sicherheit und die der gesamten Menschheit gefährden. Jeder Amtsträger und jeder Wissenschaftler, der von solchen Vertragsverletzungen weiß, könnte und sollte das tun, was Mordechai Vanunu tat, wenn das der einzige Weg ist, über die Situation zu informieren und sie zu verändern.
Ich selbst hätte mich seinerzeit in den frühen 60ern so verhalten sollen, als ich Kenntnis von der geheimen Nuklearplanung und -praxis der USA hatte. Explizite Vertragsbestimmungen, gegen die diese Programme verstoßen hätten, gab es damals zwar noch nicht, aber mir war durchaus klar, in welch extremer Weise sie die Sicherheit der Vereinigten Staaten, ja die Menschheit gefährdeten. Heute komme ich mir pflichtvergessen vor, weil ich mich zu Unrecht an die Geheimhaltungsvorschriften hielt. Aber damals gab es noch nicht das Beispiel Vanunus, an dem ich mich hätte orientieren können.
Ihm gebührt Lob und Anerkennung dafür, dass er den Mut hatte, so zu handeln, obwohl er vorhersehen konnte, wie massiv diejenigen versuchen würden, ihn zum Schweigen zu bringen und zu bestrafen, die törichterweise und schuldhaft an Atomwaffenprogrammen von verheerender Gefährlichkeit festhalten in Israel und anderswo. Die Kultur der Geheimhaltung, die sich in jedem nuklear gerüsteten Staat regelrecht zum Kult entwickelt, gefährdet nach wie vor das Überleben der Menschheit. Überall in der Welt sollten wir deshalb, dem Beispiel Vanunus folgend, gegen diesen fatalen Kult der Geheimhaltung aufstehen. DANIEL ELLSBERG