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Archiv-Artikel

Das Grauen der Gewöhnung

„Umbringen wollte ich ihn nicht“, sagt ein Angeklagter. Nach vier Stunden der Qual war der Junge tot

aus Neuruppin KIRSTEN KÜPPERS

Es reicht nicht aus, findet der Anwalt. „Man kann nicht sagen, Rechtsextremismus, und fertig“, sagt Volkmar Schöneburg. „Das greift einfach zu kurz. Da gab es weitere Gründe, andere Motive.“ Der Anwalt steht auf dem Gerichtsflur. Er hat ein glattes Gesicht, seine Stirn fängt schnell an zu glänzen. Er wippt auf den Zehen, wenn er spricht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

Drei Wochen macht der Anwalt das schon: sich in den Prozesspausen auf den Gerichtsflur stellen und den vielen Journalisten immer wieder Erklärungen liefern, neue Argumente. Seit drei Wochen läuft am Landgericht Neuruppin das Verfahren gegen die Brüder Marco und Marcel S. und ihren Freund Sebastian F. Der Verteidiger will das Beste für die Angeklagten. Das ist sein Beruf. Er stellt sich auf den Flur und redet mit den Journalisten, wirbt um Verständnis. Auch wenn es nichts nützt.

Der Prozess behandelt das, was im vergangenen Sommer in Potzlow, etwa 100 Kilometer nordöstlich von Berlin, geschehen ist. Den Mord an dem 16-jährigen Marinus Sch. Es geht um zwei Jugendliche und einen großen Bruder, die zusammen das Verbrechen begangen haben. Eine Tat, die zu grausam scheint für alle Antworten und jedes Verstehen.

Dabei haben die drei Angeklagten bei der Polizei und vor Gericht alles zugegeben. Jetzt sitzen sie da und gucken an der Aufregung vorbei. Am Entsetzen in den Gesichtern hinter der Zeugenbank und den routinierten Abläufen davor. An den Zeugen, den Richtern, den Staatsanwälten, den Gutachtern, den vielen Journalisten, den Zuschauern hinten im Saal. Sie gucken auf irgendeinen weit entfernten Punkt in der Luft. Was passierte in der Nacht zum 13. Juli 2002, haben ihre Anwälte verlesen.

Sie waren an diesem Abend zusammengesessen, hatten Karten gespielt und getrunken. Ein paar von den gestandenen Alkoholikern aus dem Dorf, die beiden Brüder Marco und Marcel S., 23 und 17 Jahre alt, sowie ihr Freund, der 17-jährige Sebastian F. Eine heitere Geselligkeit, Bierdosen und Schnaps auf dem Tisch. Marinus Sch. saß auch mit dabei. Ein Junge mit einem Sprachfehler, der weite Hosen trug, seine Haare waren blondiert. Anstoßen, ein Bier, ein Schnaps, noch ein Bier. Zusammen bewältigte die Runde einen langweiligen Freitagabend im Sommer.

Als einer der alten Trinker nach Hause trottete, die anderen alkoholisiert in den Stühlen hingen, nur die Jungen noch wach dasaßen, gab es plötzlich nichts mehr. Nur den Unterschied: die Hose von Marinus und seine Frisur. „Ein anständiger Deutscher trägt so was nicht“, riefen die drei anderen, sie selbst hatten Springerstiefel an, die Haare kurz geschoren, „Sag, dass du ein Jude bist!“ Sie schlugen fest zu. Sie schlugen Marinus ins Gesicht. Sie flößten ihm ein Gemisch aus Bier und Schnaps ein. Sie prügelten, traten mit ihren Stiefeln auf ihn ein. Nach einer Weile schleppten sie ihn auf das Gelände der stillgelegten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft am Dorfrand. Sie wollten Marinus „ein bisschen Angst einjagen“, haben die Angeklagten zu Protokoll gegeben.

In der ehemaligen Stallanlage setzten sie die Misshandlungen fort. Die Anfangsszene des Films „American History X“ haben sie nachgespielt, den Film kannten sie alle, Marcel S. hat das zugegeben: Marinus musste in die Kante eines Futtertrogs beißen, Marcel S. sprang ihm auf den Kopf. Als das Opfer entstellt dalag, schmiss er noch einen Betonstein. Nach vier Stunden der Qual war Marinus Sch. tot. Den Leichnam versenkten sie in einer Jauchegrube.

Potzlow hat knapp 600 Einwohner. Wenn alles so läuft wie immer, passiert weniger als nichts. Die Sache wäre vielleicht niemals rausgekommen. Monate gingen vorüber, die Menschen kauften ihr Brot beim Bäcker, ihr Bier beim Getränkehändler, nichts hob den Ort aus der Gewöhnlichkeit seiner Tage. Auf die Vermisstenanzeige von Marinus’ Eltern reagierte niemand. Die Täter hielten den Mund.

Im August schlug der ältere Bruder im nahe gelegenen Prenzlau einen Asylbewerber aus Sierra Leone zusammen. Er wurde zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Jauchegrube erwähnte Marco S. nicht. Womöglich wäre nichts davon je rausgekommen. Wenn sein jüngerer Bruder nicht angefangen hätte mit einer kaltschnäuzigen Ungeheuerlichkeit. Er fing an, mit dem Mord zu prahlen.

Immer mehr Freunden erzählte er davon. Es war schon November, und Marcel S. befand sich in einer betrunkenen Angeberlaune, als er ein paar Jugendliche zum alten Stallgelände führte. Für 25 Euro, als Eintritt. Auf dem Gelände stocherte er in der Jauchegrube, zeigte den halb verwesten Körper vor. Er hatte eine Axt dabei, mit dieser hieb er auf die Leiche ein, brüllte herum. Keiner der Beteiligten meldete diesen Vorfall der Polizei. Vielleicht auch, weil eine Freundin der Brüder auf einem Schulhof auftauchte und einem Jugendlichen drohte: „Wenn du was verrätst, kann dir auch so was passieren.“

Man kann sich vorstellen, wie es zuging. Die Sonntage in einem Dorf in der Provinz. Wo fast jeder etwas weiß und keiner etwas sagt. Aber das Geheimnis war zu groß. Es ging herum im Ort. Als die Gerüchte bei den ganz kleinen Kindern angekommen waren, zogen sie los. Die Kinder liefen zusammen zur alten LPG, sie hatten Stöcke dabei und eine Ahnung im Kopf. In der Jauchegrube fanden sie den Toten. Ein Kind hat die Polizei angerufen, ohne seinen Namen zu sagen.

Seit drei Wochen sitzen die Angeklagten nun schweigend und regungslos im Landgericht in Neuruppin. Die schriftlichen Geständnisse, die ihre Anwälte verlesen haben, enthalten nur ein mageres Bedauern. Marcel S. gibt an, beim Sprung auf Marinus Kopf „ein Blackout“ gehabt zu haben: „Umbringen wollte ich ihn nicht.“ Ob das so etwas wie Reue sein soll, ist nicht zu erkennen.

„Am rechtsextremistischen Hintergrund der Tat gibt es keinen Zweifel“, meint der leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher. Die Angeklagten seien „ortsbekannte Rechtsradikale“. Marinus Sch. musste sterben, weil sie ihn für „lebensunwert“ hielten. Viele Zeugen haben ausgesagt, sie haben die Vorwürfe weitgehend bestätigt. Die Staatsanwaltschaft fordert Höchststrafen.

Der Anwalt Volkmar Schöneburg verteidigt die Brüder gemeinsam mit seinem Bruder Matthias, ein weiterer Anwalt vertritt den dritten Angeklagten. Obwohl es nicht gut aussieht, hoffen sie, dass das Gericht beim Urteilsspruch am 18. Juni auf verminderte Schuldfähigkeit erkennt. Wegen des Alkohols, den ihre Mandanten getrunken haben in der Tatnacht. Es wird nicht einfach, die Kammer zu überzeugen. In Deutschland urteilen die Richter mittlerweile streng, wenn Rechtsradikalismus im Spiel ist. Man muss andere Motive finden. Deshalb stellt sich der Anwalt von Marcel S. in den Pausen auf den Gerichtsflur. Deshalb redet er mit den Journalisten, sagt immer wieder, dass es noch andere Gründe gab.

Man kennt diese Erklärungen. Eine davon haben im Gerichtssaal die Zeugen gegeben. Ausgesagt haben ein arbeitsloser Eisenbahner, ein arbeitsloser Rinderzüchter, ein arbeitsloser Stallwirt. Die LPG wurde kurz nach der Wende abgewickelt. Seither hat Potzlow eine schöne Landschaft mit schönen Seen und keine Arbeitsplätze. Die Arbeitslosenquote in der Region liegt bei über 20 Prozent. Ein Zeuge kam angetrunken in den Gerichtssaal. Zwischen Alkoholismus, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und erzwungener Untätigkeit bringen viele in Potzlow ihr Leben zu.

Dann sind da noch die überforderten Eltern. Eine arbeitslose Mutter und ein arbeitsloser Vater, die hilflos zugucken, wie ihre Söhne Hakenkreuzposter ins Zimmer hängen. Es gibt auch ein schwieriges Geschwisterverhältnis, das der Anwalt Volkmar Schöneburg anführt. Marcel S. sah demnach mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung zu seinem Bruder auf. Er gehörte nicht immer zur rechten Szene. Er hatte Phasen, in denen er Schlaghosen trug, Technopartys besuchte und Joints rauchte. Aber jedes Mal wenn sein Bruder aus dem Gefängnis kam, rasierte Marcel sich den Kopf und zog Springerstiefel an. Weil sein Bruder das genauso tat.

Der Anwalt erklärt, Marcel S. habe sein Opfer nicht für minderwertig gehalten. Die beiden waren Kumpel, früher hatte Marcel zusammen mit Marinus Autos geklaut und Mofas repariert. Vielmehr sei der Mord eine Form der Selbstbehauptung unter Geschwistern gewesen, glaubt der Anwalt.

Hinten auf der Zuschauerbank des Gerichtssaals sitzt der Bürgermeister von Potzlow. Sein Gesicht sieht still und betroffen aus. Er weiß, dass alle diese Argumente viel sagen und nichts entschuldigen. Es bleibt das Verbrechen und seine Folgen. Viele gucken nun auf Potzlow und seine Bewohner wie auf ein Nest voller Ungeheuer. Sooft wie möglich versucht der Bürgermeister jetzt bei der Verhandlung in Neuruppin zu sein. Zu ihm kommen ja später wieder die Journalisten und fragen, er weiß das.

Die Journalisten, die anreisen in die Provinz. Die ankommen mit ihren Mikrofonen und Kabeln und ihren Fragen. Die ihre Beiträge abdrehen für die Abendnachrichten und am nächsten Tag in einen anderen Winkel der Welt ziehen für ein Ereignis, das noch keiner erlebt hat, das ist das Geschäft.

Ein Mann fällt auf, der durch die Gerichtsflure von Neuruppin läuft. Er fällt auf, weil er noch nicht so weit scheint wie die anderen Zuschauer, sich noch nicht gewöhnt hat an die Nähe zu diesem Verbrechen. Der Mann ist Korrespondent der zweitgrößten niederländischen Tageszeitung. Er ist an diesem Tag zum ersten Mal mit dem Fall Potzlow beschäftigt, und er kann es nicht fassen. Dass der Niederländer nun aufgeregt durch die Gerichtsflure läuft wie kein anderer, sagt etwas über die schleichende Gewöhnung, die sich eingestellt hat, hier im Gerichtssaal, aber auch in Deutschland angesichts der Menge und der Grausamkeit der Vorfälle.

Jetzt rennt er herum und stellt Fragen. Er spricht von Statistiken, von rechtsradikalen Gewalttaten, von Politik. Er spricht von der unfassbaren Tatsache, dass es in Deutschland Gebiete gibt, in denen Fremde um ihr Leben fürchten müssen. Er fragt mehr als alle anderen Journalisten an diesem Tag. Er fragt eine Frau, die vor dem Gerichtssaal sitzt. Sie ist Mitglied beim „Mobilen Beratungsteam Brandenburg“. Eine Frau, die die Welt erklärtermaßen besser machen will, indem sie mit ihrem Verein jetzt auch in Potzlow mit Jugendlichen und Sozialarbeitern Gespräche führt. Die Frau antwortet dem Journalisten, dass sie Statistiken nicht traut und dass es auch Fortschritte gibt. „Die kleinen Erfolge, die wir im Kampf gegen den Rechtsextremismus erzielen, muss man auch anerkennen“, sagt sie.

Noch etwas bleibt übrig von diesen Prozesstagen in Neuruppin. Eine kleine Information. Der Anwalt Volkmar Schöneburg hat sie vorhin auf dem Gerichtsflur gegeben, obwohl sie nichts Gutes sagt über seinen Mandanten. Marcel S. hat sich in der Untersuchungshaft ein Hakenkreuz auf sein Knie tätowieren lassen, hat der Anwalt erzählt. Auf wippenden Zehen, mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck hat er das gesagt. Und noch einen anderen Satz: „Es könnte gut sein, dass er von den rechten Jugendlichen im Knast für den Mord an Marinus gefeiert wird.“