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Archiv-Artikel

„Wir trauen der Türkei nicht“

Der Weg von Kato Pyrgos nach Morphou war 30 Kilometer lang. Bis zum Krieg vor dreißig Jahren. Heute sind es mehr als 250

AUS NIKOSIAKLAUS HILLENBRAND

„Wir treffen uns unter der großen Eiche“, hat der Bürgermeister am Telefon gesagt. Nun ist es so, dass die Eiche von Kato Pyrgos zwar nicht zu verfehlen ist. Aber zunächst einmal muss man das griechische Bauerndorf an der Nordwestküste Zyperns erreichen. Und hier liegen die Schwierigkeiten weniger in den Straßenverhältnissen als in der politischen Geografie begründet: Die 500 Einwohner von Kato Pyrgos leben zwischen stets geschlossenen Schlagbäumen.

Die Straße in Richtung Osten nach Morphou endet an einem frisch gestrichenen weißen Unterstand der Armee. Daneben zeigt eine steinerne Reliefkarte die Insel Zypern – der Norden ist blutrot gepinselt. Doch hinter Kato Pyrgos ist auch in Richtung Westen sehr bald Schluss: Eine winzige türkische Enklave klebt an der Küste und macht einen umständlichen Umweg über kurvige Bergstraßen notwendig.

Bürgermeister Krinos Theochrous weiß, was ein Ende der Teilung Zyperns für sein Dorf bedeuten würde. „Früher war man mit dem Bus in einer halben Stunde in Morphou und in einer in Nikosia“, sagt der 63-Jährige mit dem grauen Kinnbart. Heute dauert es über vier Stunden bis Nikosia, und in Morphou war Theochrous seit 1974 nicht mehr.

Wenn die griechischen und türkischen Zyprioten morgen in getrennten Referenden dem UN-Plan zur Wiedervereinigung der Insel zustimmen, dann öffnen sich die Schlagbäume. Der Weg wäre frei – für die Orangen und Zitronen aus dem Dorf, aber auch für die Touristenbusse, die Kato Pyrgos bislang meiden.

Dennoch wird Krinos Theochrous wohl mit „Ochi“ (Nein) stimmen, und mit ihm die Mehrheit des Dorfes – und aller griechischen Zyprioten. „Wir trauen ihnen nicht.“ Sie, das sind die Türken. Der Bürgermeister zeigt aufs Meer, wo sich am Horizont die türkische Küste kaum wahrnehmbar abzeichnet. „Besser, es bleibt alles, wie es ist, als dass es eine gefährliche Lösung gibt.“

Gefährlich, das ist für Theochrous der vermeintliche Einfluss Ankaras auf die Vereinigte Republik Zypern. Hat es nicht 1974 die türkischen Invasion gegeben? Sollen nicht 650 türkische Soldaten auf Dauer auf Zypern stationiert bleiben? Vor den türkischen Zyprioten hat Theochrous keine Angst, mit denen hätte man sich früher gut vertragen. Aber die Türkei? „Die EU-Mitgliedschaft allein ist nicht ausreichend“, meint der Bürgermeister. „Wer schützt uns, wenn die Türken wiederkommen?“

Auch in Nikosia ist „der Türke“ nicht weit weg, denn die Metropole mit 250.000 Einwohnern ist die letzte geteilte Hauptstadt Europas, durchzogen von einer hässlichen Narbe aus Stacheldraht, Sandsäcken und verbeulten Blechtonnen. Im griechischen Sektor Nikosias residiert in einem kleinen Haus der Bischof von Kyrenia. Der 60-Jährige hat seine Stadt freilich seit 30 Jahren nicht gesehen, und obwohl seit einem Jahr Reisen in den türkischen Norden möglich sind, weigert er sich standhaft, das „türkisch besetzte Gebiet“ zu betreten.

Von Beginn an hat sich der Bischof an die Spitze der Neinsager gegen den „teuflischen Annan-Plan“ gesetzt. „Wir wollen nicht Selbstmord begehen. Wir trauen der Türkei nicht. Sie hat noch nie ihr Wort gehalten“, sagt der Mann im Ornat mit dem langen weiß-grauen Bart. Dass Europa, die UN, die USA auf eine Verständigung drängen, ist für ihn nichts weiter als eine „große amerikanische Verschwörung“.

Der Bischof sieht „den Hellenismus in Gefahr“. Anderen Protagonisten der „Ochi“-Front geht es um weit Prosaischeres: etwa, dass neue Konkurrenz die Auslastung der Touristenhotels gefährden könnte. Dass die Türken zu viel und die Griechen zu wenig profitieren würden. Und überhaupt käme die „Vereinigte Republik Zypern“ viel zu teuer. Doch hinter allem steht: Sie wollen die Macht nicht teilen.

Krieg und Vertreibung, Tote und Vermisste: Die traumatischen Erfahrungen vieler griechischer Zyprioten aus dem Jahr 1974 wirken bis heute, und sie werden von Generation zu Generation vererbt. Es sind diese Erinnerungen, die Klerus und Nationalisten – mit einem demagogischen Staatspräsidenten Tassos Papadopoulos an der Spitze – rücksichtslos instrumentalisieren, um ein Nein an diesem Samstag sicherzustellen. Ihre blauen „Ochi“-Zeichen haben die Stadt überschwemmt. Jede Bushaltestelle trägt ein „Ochi“-Plakat und gewaltige „Ochi“-Banner hängen von Fassaden.

Es gehört ein gewisser Mut zum „Nai“ (Ja) in diesen Tagen in Nikosia, meint Lellos Demetriades. Der ehemalige Bürgermeister trägt Maßanzug. Vom Büro seiner Anwaltskanzlei im 9. Stock eines Hochhauses wischt der 71-Jährige sämtliche Bedenken wegen fehlender Sicherheiten für den neuen Staat mit einem Satz beiseite: „Die Türkei ist 40 Meilen entfernt, und daran kannst du nichts ändern.“

Vor 20 Jahren hat Demetriades als Erster überhaupt Kontakte zur feindlichen Seite geknüpft und dafür gesorgt, dass das Abwasser beide Stadthälften Nikosias nicht überschwemmt, sondern gemeinsam entsorgt wird. Der Ex-Bürgermeister genießt noch immer Popularität und hat sich einer in letzter Minute gegründeten „Nai“-Plattform angeschlossen, obwohl er die Chancen selbst als schlecht einschätzt: „Inselbewohner sind immer konservativ.“ Gestern schwand auch seine letzte Hoffnung: Die postkommunistische AKEL-Partei, stärkste Kraft unter den Zyperngriechen, mochte sich nicht auf ein Ja festlegen.

„Die Türken sind unser Feind, das sagt doch schon der Opa zum Enkel. Das sagen alle Verwandten, die Kirche. Das steht in den Schulbüchern. Und dann gehst du als Junge zur Armee und lernst, die anderen zu töten“, sagt Demetriades. Nur so könne er sich die Ängste seiner Landsleute erklären. Nie habe man versucht, den Menschen das Positive am UN-Vorschlag zu erklären: dass nahezu alle Flüchtlinge zurückkehren könnten, dass das Gros der türkischen Armee Zypern verlassen werde, dass eine gemeinsame Zukunft für alle Zyprioten warte. „Unsere Regierung war nicht sehr enthusiastisch“, sagt Demetriades höflich.

Drüben auf der anderen Seite des Stacheldrahts, in Nord-Nikosia, hängen nicht viele Plakate. Die Sache scheint gelaufen für ein „Evet“ (Ja). Da kann der über 80-jährige zyperntürkische Präsident Rauf Denktasch sogar den ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit einfliegen. Man mag nicht mehr hinhören. Und der greise Ecevit, der vor 30 Jahren die türkischen Truppen nach Zypern befahl, flüstert ohnehin so leise in die Mikrofone, dass kaum etwas zu verstehen ist.

„Ja“, das bedeutet Europa und wirtschaftlichen Aufschwung im isolierten Norden. „Nein“ steht für die Vergangenheit. Doch was nützt ein zyperntürkisches Ja, wenn die Griechen mit Nein stimmen? Der UN-Plan wäre abgelehnt. Deshalb beschworen die Anhänger der Türkisch-Republikanischen Partei in ihrem Hauptquartier in der Altstadt Nikosias ihre Freunde von der griechischen AKEL bis zuletzt, ihre Meinung noch zu revidieren. Doch vergeblich.

30 Kilometer lang war der Weg von Kato Pyrgos nach Morphou bis zum Krieg vor 30 Jahren. Mehr als 250 sind es heute. Der Ort heißt längst türkisch Güzelyurt. Die einstigen griechischen Bewohner mussten fliehen. Im baufälligen lokalen Büro der Türkisch-Republikanischen Partei sitzt Niyazi Düzgüz und erklärt, warum die Menschen mit Ja und für ihre eigene Vertreibung stimmen wollen. „Nach dem UN-Plan müssen wir unsere Häuser verlassen“, sagt der 61-Jährige. „Weil auch die Felder wieder den Griechen zurückgegeben werden, verlieren die Menschen ihr Einkommen.“ Doch bei dem Referendum gehe es um mehr: „eine sichere Zukunft“.

Richtig investiert worden sei von den Zyperntürken in Güzelyurt nie, sagt Düzgüz, und der Augenschein bestätigt die Aussage. Hinter neueren Werbeschildern der kleinen Läden lugen bisweilen noch griechische Inschriften hervor. Nicht einmal einen türkischen Friedhof gibt es hier. Die Menschen werden in Nord-Nikosia begraben. „Alle ahnten, dass Morphou irgendwann seinen ursprünglichen Bewohnern zurückgegeben wird“, sagt Düzgüz.

Er ist selbst Flüchtling. Nach dem Krieg musste Düzgüz 1974 seine Heimatstadt Polis ebenso wie alle türkischen Zyprioten verlassen. Vor ein paar Jahren sei er zum ersten Mal wieder da gewesen, und die Griechen hätten ihn freundlich empfangen. Angst vor ihnen habe er nicht.

Düzgüz beschwört die Zukunft: „Das Vertrauen wächst. In zehn Jahren ist der Konflikt zwischen Griechen und Türken vergessen.“ Die alten Bewohner Morphous könnten endlich nach Hause. Sie selbst würden eine neue Stadt für die 12.000 Bewohner Güzelyurts bauen, auf dem Gebiet des zyperntürkischen Teilstaats.

30 Kilometer weiter westlich, unter der Eiche von Kato Pyrgos, steht der zyperngriechische Bürgermeister Krinos Theochrous und erzählt von seinem langen Kampf für eine neue Straße nach Nikosia. Sie soll entlang der Grenze verlaufen und den Weg in die Hauptstadt abkürzen. „Im September wird sie endlich fertig. Dann brauchen wir nur noch zwei Stunden bis Nikosia“, sagt er. Aber gibt es dann noch eine Grenze?

Auf dem alten, seit 30 Jahren gesperrten Weg über Morphou hat es nur eine Stunde gedauert, erinnert er sich. Krinos Theochrous verspricht, noch einmal darüber nachzudenken, ob er wirklich mit Nein abstimmt.