„Behandeln wie Gras“

In Schleswig-Holstein versuchen Landwirte und Reetschneider erstmalig Reet zu kultivieren. Dafür wollen die Initiatoren Flächen mit Reet-Setzlingen neu bepflanzen. Der Baustoff Reet eignet sich hervorragend zur Eindeckung von Dächern

VON DIERK JENSEN

Noch vor 100 Jahren wuchs in den moorigen Niederungen zwischen den Flüssen Eider, Treene und Sorge das langwüchsige Reet en masse. Damals gab es noch nicht das Eidersperrwerk und andere wasserbauliche Großmaßnahmen, die das binnenländische Feuchtgebiet dem Einfluss der Gezeiten vollständig entzog und weite Bereiche für die Landwirtschaft trocken legte. Um 1900 gingen sehr viele Reetschneider wintertags in die teilweise überfluteten Flächen hinaus, um das Schilf als wertvolles Baumaterial für die Dächer von Häusern, Katen und Scheunen zu ernten. So war Reet damals eine wichtige Einnahmequelle für die ganze Region. Heute gibt es im ungefähr 60.000 Hektar großen Gebiet, das in weiten Teilen mehr als einen halben Meter und an manchen Stellen auch mehr als einen Meter unter der Meeresoberfläche liegt, nur noch klägliche Restbestände. Je größer die Rinderherden der Bauern wurden, desto kleiner gerieten die Reetflächen.

Dagmar Bennewitz möchte die Reetbergung neu beleben. Die energiegeladene Frau aus dem Meggerdorfer Koog, wo sie zusammen mit ihrem Mann vor der Hofübergabe jahrzehntelang einen Milchviehbetrieb führte, will zusammen mit anderen Aktivisten der im Kreis Schleswig-Flensburg engagierten Arbeitsgemeinschaft Landschaftspflege nicht nur die schütteren Restbestände bergen, sondern vor allem Reet neu anpflanzen. Damit schlagen sie einen vollkommen neuen Weg ein. Denn bisher hat noch niemand versucht, das wild wachsende Schilfrohr wie eine Kulturpflanze zu behandeln. Ein sehr ambitionierter Versuch, der letztlich der Idee entspringt, Natur und Landwirtschaft miteinander zu versöhnen. „Ich wollte als Landwirtin endlich mal aus der naturschutzpolitischen Defensive heraus“, sagt die 59-Jährige. „Einen Handlungsansatz, der uns ohne Dogma neue Perspektiven bietet.“

Zumal die Nachfrage nach dem natürlichen Rohstoff seitens des Dachdeckerhandwerks in der letzten Dekade enorm gestiegen ist. Viele Bauherren entscheiden sich für dieses natürliche Baumaterial, weil sie die thermischen und ästhetischen Aspekte von Reetdächern wieder entdecken. Allerdings wird nur noch ein kleiner Teil des derzeitigen Bedarfs mit einheimischem Reet gedeckt. Der überwiegende Teil des in Norddeutschland verarbeiteten Reets kommt aus Rumänien, Ungarn, Polen oder sogar aus der Türkei. Mit der Reaktivierung der Schilfnutzung findet Bennewitz auch große Resonanz bei Naturschützern. „Das ist eine tolle Sache, Landschaftsbereiche in ihre alten Vegetationstypen zurückzuführen“, befürwortet Biologin Heike Köster vom Nabu-Institut für Vogelschutz im nahe gelegenen Storchendorf Bergenhusen die Reaktivierung von Reet. „Dadurch würden im Sommer ungestörte Flächen für den Moorfrosch und andere Amphibien entstehen“, hofft Köster.

Als zukünftige Reetflächen, so die Reetvordenker, sollen vor allem die landwirtschaftlichen Flächen dienen, die schon heute keinen Ertrag mehr einbringen. Wieso also nicht auf einer extrem nassen Weide eine nutzbringende Pflanze „wiedereinbürgern“, statt alles mit großer Landtechnik kaputtzufahren, um obendrein dann doch nichts zu verdienen? Das macht nicht viel Sinn, weiß auch Heinrich Mommens, der zusammen mit Dagmar Bennewitz und den örtlichen Naturschutzvereinen im Schwabstedter Westerkoogspolder aufwändige Anpflanzexperimente mit Schilf unternimmt. „Reet wie Gras behandeln“, ist seine Erkenntnis aus drei Jahren mühsamen Anbauversuchen des vegetativ vermehrenden Schilfrohrs. „Im ersten Jahr darf man die Setzlinge nicht zu stark wässern“, sagt der frühere Lebensmitteltechnologe. Trotz der großen Schwierigkeiten eine wilde Pflanze zu domestizieren, machen Mommens und andere ehrenamtliche Mitarbeiter unbeirrt weiter. Eine Arbeit, die demnächst mit EU-Mitteln gefördert wird und die auf einem ersten Testfeld mit einer Größe von einem Hektar schon sichtbare Erfolge zeigt.

Immerhin 10.000 Rhizome sind im Frühjahr 2003 in Reihe in einer Tiefe von zehn Zentimeter halbmanuell gepflanzt worden und gut angewachsen. Allerdings liegen die Gesamtkulturkosten noch extrem hoch, sodass die „Reet-Avantgardisten“ noch einige Innovationsschübe bewältigen müssen, um irgendwann wirtschaftlich operieren zu können. Außerdem können die Beteiligten bei Neuanpflanzungen nicht auf den Zugriff schon bestehender Naturschutzflächen setzen. Rita Jensen, Geschäftsführerin der landeseigenen Stiftung Naturschutz, die im Dreieck von Eider, Treene und Sorge 5.000 Hektar Land besitzt, erteilt solchen Begehrlichkeiten eine Absage. „Wir stehen dem Projekt aufgeschlossen gegenüber, aber öffentliche Flächen des Arten- und Biotopschutzes stehen dafür nicht zur Verfügung“, sagt Jensen. Trotzdem hält sie es für sinnvoll zusammenzuarbeiten, um bei veränderten Wasserständen nicht von Flurstück zu Flurstück, sondern im Sinne natürlicher Dynamik „großräumlich“ zu denken. Das kommt einem Reetfreak wie Mommens entgegen, der einfach an das Qualitätsprodukt „heimisches Reet“ mit lokaler Wertschöpfung im großen Stil glaubt.