: Die Angst des Schiedsrichters vor dem Elfmeter
Zum Saisonende stehen die Unparteiischen unter besonderem Druck: Ihre Entscheidungen küren Meister und lassen andere aus der Liga abstürzen. Fans, Vereine und Presse suchen die Schuld für Misserfolge stets bei dem Mann mit der Pfeife
VON MARKUS SCHÄFLEIN
Dieser Job kann einem schon mal den Appetit verderben. Neulich beim Frühstück fand Uwe Kemmling sein Gesicht unerwartet auf dem Titel einer Boulevardzeitung, eine Fotomontage, mit Gemüse vor den Augen. Er hatte dem FC Bayern in Rostock einen Treffer verweigert.
Später behauptete Torwart Oliver Kahn öffentlich eine Verschwörung der Schiedsrichter. Jede Entscheidung für Bremen und gegen die Bayern wurde im Fernsehen bis ins kleinste Detail analysiert. Nach dem Spiel in Dortmund, bei dem Markus Merk ein Handspiel des Dortmunders Christian Wörns übersehen und der Borussia einen unberechtigten Elfmeter zugesprochen hatte, sagte Bayern-Spieler Michael Ballack: „Das ist unglaublich, alles sehr bedenklich. Die Schiris müssen jetzt einen Arsch in der Hose haben.“ Auch nach dem Champions-League-Halbfinalspiel zwischen dem FC Porto und Deportivo La Coruña am Mittwoch musste Merk herbe Kritik einstecken: „Blechpfeife“ nannte ihn das portugiesische Sportblatt O Jogo, die spanische Fachzeitschrift As beklagte sich, seine Leistung sei „eines Halbfinales unwürdig“ gewesen. Der Porto-Trainer Jose Mourinho ließ verlauten, einen solchen Schiedsrichter habe er in seiner ganzen Laufbahn noch nicht mit ansehen müssen.
Und das sind keine Ausnahmen. Im Moment lässt sich beobachten, was stets passiert, wenn sich eine Bundesliga-Saison dem Ende zuneigt: Die Vereine suchen die Schuld vorsorglich bei den Schiedsrichtern, falls sie ihr Ziel am Ende nicht erreichen sollten. Die Fans glauben gern, dass nicht ihre Idole am Misserfolg schuld sind, sondern Außenstehende. Und die Boulevardmedien helfen mit Überschriften.
Gewöhnlich liest Uwe Kemmling beim Frühstück kein Revolverblatt, auch heute nicht. Es ist elf Uhr morgens, für Kemmling, 43, beginnt ein normaler Arbeitstag. Die Spieler des Hamburger SV warten in der Lobby des Hilton Park Hotels in München auf ihren Bus. Kemmling steht dabei, unterhält sich mit ihnen. Man kennt sich. „Die Spieler sollen auch den Menschen Kemmling kennen lernen“, sagt er. Deshalb besucht er vor jeder Saison auf Wunsch die Vereine. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) bietet diese Hospitanzen an, damit das Verhältnis zwischen Spielern und Schiedsrichtern entkrampft wird und der Irrglaube vom parteiischen Regelhüter widerlegt wird. Dafür betreiben die Schiedsrichter großen Aufwand; ihre Arbeitszeit beträgt weit mehr als 90 Minuten. „Natürlich duze ich keinen und halte Distanz“, sagt Kemmling, „aber die Spieler sollen wissen: Der ist auch nur ein Mensch.“
Kemmling sitzt in einem Couchsessel und faltet die Hände. Er redet langsam und überlegt. „Es hilft einem auch selbst, wenn man sich klarmacht: Ich bin ein Mensch, mit Schwächen und Fehlern. Das hilft, falsche Entscheidungen zu verarbeiten.“
Als einmal Mario Basler über ein Entscheidung schimpfte, zog Kemmling die Gelbe Karte, drehte sich um und ging weg. „Das wird als Arroganz ausgelegt“, sagt er, „aber ich will den Spieler schützen. Wenn ich mit ihm rede, schimpft er weiter, dann muss ich Gelb-Rot geben.“ Basler zog danach in allen Sportsendungen über Kemmling her. Der Versuchung, ihn beim nächsten Mal zu bestrafen, ist Kemmling nicht erlegen. „Man wächst immer weiter“, sagt er, „auch heute werde ich wieder lernen.“
Kurz vor zwölf. Georg Schalk trifft ein, er wird, so die Sprachregelung des DFB, Vierter Offizieller sein, an der Linie stehen, Formalien erledigen. Kemmling und Schalk begrüßen sich herzlich, als seien sie Spieler desselben Teams. Sie sind Spieler desselben Teams. Ihr Gegner ist der Mythos vom parteiischen Schiedsrichter.
Selten ist jemand auf die Idee gekommen, einem Stürmer zu unterstellen, er hätte absichtlich am Tor vorbeigezielt. Begeht ein Regelhüter einen Fehler, sieht er sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, er sei parteiisch. Allein in der Saison 1990/91 hat der 1. FC Nürnberg 174.000 Mark in die Schiedsrichterbetreuung investiert. Kemmling bekam ein Trampolin zugeschickt. „Das war nur 39 Mark wert, ich habe mir erst nichts dabei gedacht und es später dann zurückgeschickt“, sagt er. Ohne es zu merken, wurde er Teil des größten Schiedsrichterskandals der Liga.
Kemmling verabschiedet sich, er wird sich noch eine Stunde ins Bett legen. Um halb zwei kommt ein Kleinbus des TSV 1860, um die Schiedsrichter ins Stadion zu bringen. Das ist der einzige Service, den die Klubs noch bieten – alles andere wurde nach dem Nürnberger Skandal abgeschafft. Dort trifft sich Kemmling mit den Assistenten in der Kabine. „Man diskutiert über die Vorbedingungen, um das Spiel nachher besser lesen zu können“, erklärt er.
Die Vorbedingung heute: 1860 wird gegen den Abstieg kämpfen. Ein falscher Elfmeter, ein irrtümliches Abseits kann den entscheidenden Punkt zum Verbleib in der Ersten Liga kosten. Und viele Millionen Euro. So sehen es die Klubs. Kemmling hat eine Strategie entwickelt, mit diesem Druck umzugehen. Eine einzelne Szene, sagt er, entscheide nie über irgendetwas. „Wir treffen eine Vielzahl von Entscheidungen“, sagt er, „sich Gedanken zu machen, ob eine falsch ist, ist schlecht. Dann mache ich sofort den nächsten Fehler.“ Eine Statistik zeigt, dass er alle 96 Minuten eine groben Fehler macht. „Damit kann ich leben.“
Das Spiel beginnt, Kemmling verbringt einen angenehmen Arbeitstag. „Es war nicht so hitzig, wie ich gedacht hatte“, sagt er später. Die 1860-Fans haben in 90 Minuten nur ein einziges Mal „O hängt sie auf, die schwarze Sau“ gesungen, ansonsten waren sie mit ihren Sorgen beschäftigt. In der Sportzeitschrift kicker wird zu lesen sein: „Schiedsrichter Kemmling (Kleinburgwedel), Note 4 – nahm dem HSV wegen einer vermeintlichen Abseitsstellung von Romeo eine Großchance (35.), leitete ansonsten ordentlich.“ – „Die kicker-Noten interessieren uns nicht“, sagt Schalk.
Die Besprechung nach dem Spiel dauert heute nicht lange. Hans Ebersberger, der Coach oder Manager, wie ihn der DFB nennt, hat das Spiel von der Tribüne aus beobachtet und diskutiert in der Kabine mit den Schiedsrichtern über ihre Fehler. Der Zutritt ist verboten. „Wir wollen Diskussionen nicht öffentlich austragen, wir üben intern Kritik“, sagt Kemmling. Dass solche Besprechungen geheim sind, schützt das Image des einzelnen Regelhüters.
Am Abend fährt Kemmling zurück nach Burgwedel, er hat 3.068 Euro brutto verdient. „Es könnte mehr sein“, sagt er, „wenn man sieht, wie viel Verantwortung wir tragen und welchen Aufwand wir betreiben.“ Unter der Woche wird er Lauftraining absolvieren, sich auf das nächste Spiel vorbereiten. Und den Mythos vom parteiischen Regelhüter bekämpfen, der so alt ist wie das Spiel und den es so lange geben wird, wie es den Fußball gibt. Morgen (Sonntagabend), wenn der FC Bayern gegen den TSV 1860 im Münchner Derby antritt, wird Schiedsrichter Jürgen Jansen unter strenger Beobachtung stehen: Er hat in dieser Saison schon zwei Strafstöße gegen die Bayern gepfiffen. Beide zu Recht übrigens.