Baader eine Ikone, Hitler ein Popstar

Als Fotograf interessiert er sich für die Sprache der Körper, als Medienhistoriker für den Einfluss der Muttersprache auf den fotografischen Blick: Rolf Sachsse. Ein Gespräch mit dem Professor über die Ikonografie schwuler Pornografie, unterschätzte Protagonisten deutschen Sehens und den Missbrauch des Mediums Fotografie unter dem nationalsozialistischen Regime

von NIKE BREYER

Der Bus hält in einer Bonner Vorstadtgegend, in der man die Werkstatt eines ambitionierten Kunstschmieds vermuten würde, nicht aber das Heim eines Experten für elektronische Bildmedien. Das skandinavisch wirkende, graue Eckhaus, von einem Streifen grauer Kieselsteine gesäumt, ist gleichwohl das gesuchte. Rolf Sachsse begrüsst die Besucherin freundlich, unprätentiös. Man nimmt im modern eingerichteten Wohnraum an einem großen Tisch Platz. Die hohe Decke mit Galerie und die weitgehende Abwesenheit von Farbe gibt dem Raum eine helle, emotionsgedrosselte Klarheit, die sich – interieurgewordene Medientheorie – auf die Anwesenden überträgt.

taz.mag: Herr Professor Sachsse, in Ihrer Gästetoilette ist eine amerikanische Flagge gehisst. Hat das etwas zu bedeuten?

Rolf Sachsse (lacht): Als unser Sohn klein war, haben meine Frau und ich sehr viel gearbeitet. Darum ist er früh in einen Kindergarten gekommen, und das war der internationale Kindergarten der US-Botschaft. Seitdem (lacht) haben wir einen amerikanischen Patrioten in der Familie.

Auch jüngere Ereignisse können an dieser deutsch-amerikanischen Freundschaft nicht rütteln?

Nö. Ich lasse mir die Liebe zu Amerika nicht von einem Präsidenten mit einem IQ von 83 kaputtmachen – so weit der Kommentar meines siebzehnjährigen Sohnes.

Bei Ihnen fällt dagegen eine intensive Beschäftigung mit deutschen Sujets auf. Dieser Tage erscheint Ihr neues Buch „Erziehung zum Wegsehen, Fotografie im NS-Staat“, über das wir später noch sprechen. 1997 haben Sie mit Professor Klaus Honnef die Ausstellung „Deutsche Fotografie 1870–1970“ in Bonn kuratiert. Dabei präsentieren Sie auch „Fundstücke“, Werke weniger bekannter Fotografen wie etwa Herbert Tobias.

Der war einer der wichtigsten deutschen Modefotografen und ist nach wie vor sehr unterbewertet. Er ist vor siebzehn, achtzehn Jahren gestorben, man kann nicht unbedingt sagen an Aids, aber sicherlich an irgendwelchen Spätfolgen seiner extremen Betätigungen im SM-Bereich. Jemand mit einer sehr bewegten schwulen Vergangenheit, der dann in den späten Siebzigerjahren völlig abstürzte. Es gibt von Tobias – das haben wir auch in der Ausstellung „Deutsche Fotografie“ gezeigt – eine Bilderserie, die er von Andreas Baader für ein Schwulenmagazin gemacht hat. Das muss so 1962, 63 gewesen sein.

Etwa dieses Foto mit nacktem Oberkörper, Desertboots und diesem Schlafzimmerblick?

Ja, ja, nackter Oberkörper. Kann sein, dass er auch so was trägt, warten Sie (blättert im Katalog), hier isses, ja, Clarks. Von 1962.

Fast eine Ikone. Das ist von Tobias?

Ja, die ganze Serie gehört übrigens F. C. Gundlach, der quasi die letzten Lebensjahre von Herbert finanziert hat. Tobias war in den Sechzigerjahren der Fotograf für die so genannte Berliner Mode, Östergard und solche Leute.

War der nicht Münchner?

Eigentlich ja. Aber irgendwie lief das unter Berliner Mode und wurde auch immer auf’m Ku’damm fotografiert. Das hat Herbert Tobias gemacht. Er hat wie auch der frühe Helmut Newton sehr viel in diesen Bereichen fotografiert. Wir haben in der Bonner Ausstellung ganz bewusst den frühen Newton gezeigt, also den vor seinem Herzinfarkt 1972, mit dem sich alles geändert hat. Newton war wie Tobias und im Gegensatz zu Gundlach kein Glamourfotograf. Die haben – na ja – so’n bisschen oberhalb der Katalogebene gearbeitet, für Foto Herr und solche Titel, maschinelle Großstudios mit zwei Reihen Umkleidekabinen und die Männer und Frauen da so rein, raus, Klamotten an und wieder runter und dazu irgendwelche Hintergundprojektionen.

Newton ist ab 1958 fest im deutschen Geschäft gewesen …

… wenn auch mit Pariser oder monegassischem Wohnsitz. Er war bei Blättern wie Constanze Dauerfotograf. Tobias und Newton stehen sich um die Zeit relativ gleich. Tobias, vier Jahre jünger als Newton, war sogar ein bisschen mehr der Paradiesvogel. Er galt als extravaganter. Kann man sich heute schwer vorstellen.

Wie kommt der Glamourfotograf Tobias dazu, den unbekannten Baader für ein Schwulenmagazin zu porträtieren?

Das war normales Agenturgeschäft. Da gab’s Magazine, die hießen so Du und ich und so was. Dabei hatten die immer ein Problem: Sie wurden unter der Ladentheke gehandelt.

Wie Pornografie.

Eigentlich wie Pornohefte, obwohl sie’s nicht waren. Das heißt, man versuchte, das schwule Dasein, die schwulen Orientierungen gesellschaftlich aufzuwerten.

Zu ästhetisieren?

Durch Ästhetisieren, aber auch dadurch, dass man eben nur halbnackte Männer fotografierte, ein bisschen Lifestyle reinbrachte, es in die Nähe der Mode ansiedelte. Jetzt sind wir beim Punkt.

Ja.

Tobias war nun selber schwul, und viele andere, die sich in dem Umfeld bewegten, hatten durchaus auch Züge davon oder waren in ihren eigenen sexuellen Orientierungen nicht so etabliert. Bi hatte damals einen gewissen Schick. Weswegen solche Magazine sich gern das Gepräge seriöser Herrenmagazine gaben, ein bisschen wie Esquire. Das war das Vorbild.

Das vom Selbstverständnis nicht schwul ist.

Aber Esquire war nicht so brutal hetero wie Playboy und wesentlich anerkannter. Das konnte man als Bankangestellter mit ins Büro nehmen, Playboy nicht, zumindestens in Deutschland bis weit in die Sechzigerjahre. Da konnte man der Schule verwiesen werden. Nein, es ja war zu der Zeit schon mit dem Spiegel schwierig.

(Lachend) Wegen der Pornografie.

Wegen der Politik. Es war ja ein absoluter Muff, der uns umfangen hat. Das gehört zu diesem Zynismus und der Kaltblütigkeit dieser Generation, wie sie sich dann im Terrorismus zeigte, dazu. Aber zu Ihrer Frage: Ich denke, dass jemand wie Baader da mal zu ’ner Agentur gegangen ist. So geht das. Kann aber auch sein, dass Tobias ihn auf einer Party erwischt hat.

Der Schauspieler Charles Regnier soll Baader zum Beispiel mal angesprochen haben.

Ach ja? Also Tobias und Regnier waren enge Freunde.

Das passt ja.

Regnier hat sich natürlich zurückgezogen, als Tobias ab Mitte der Siebziger dann total in die Schmuddelecke gerauscht ist. Ich kenn die Bilder. Die sind nicht doll. Man kann sie auch nicht mit Peter Hujar oder Mapplethorpe vergleichen. Nein, das sind ziemlich doofe schwule Pornos, wo es um den klassischen Schwulenkonnex Sex und Gewalt geht, das alte Pornothema. Ich hab dabei eigentlich nichts gegen Pornografie im klassischen Sinn, weil es eine Fortführung erotischer Techniken ist, die eine Art von Mechanisierung erfahren, im Literarischen wie im Bildlichen. Das kennt man schon in der Antike.

Wie an Vasenmalerei zu studieren.

Nicht wahr, da wird’s dekliniert. Wie heißt es im Englischen: Fiftyseven positions.

Verstehe: diese Kamasutranummer.

Trotzdem. Tobias gehört für mich zu den sehr unterschätzten deutschen Fotografen. Da gibt’s gar keine Diskussion. Woraus man aber umgekehrt auch nicht wieder einen Mythos machen darf, wie bei Baader. Was Sie aber bei Tobias noch viel genauer beobachten konnten als bei den anderen Modefotografen, die sich gerne einem Formaldiktat der Kostümzeichnerei unterwarfen, waren Körperhaltungen, Körpersprache. Er hat wunderbare Frauenmode fotografiert, mit starken Frauen.

Na, das ist auch eine typische Schwulenfantasie. Als artifizielle Kunstwesen werden Frauen doch eher domestiziert.

Na gut, aber mit Baader haben Sie ja dann das Gegenbeispiel geliefert. Im Prinzip ist das ein spiegelbildliches Verfahren, indem man einen Mann da als schwul etikettiert oder sexy. Da können sie ihn auch sozial domestizieren.

Mir scheint, Baader wird dadurch eher überhöht.

Nö, Sie können so aus ihm ’ne Popfigur machen. Damit ist er auch platt. Es gibt übrigens ein fotografisches Pendant zu Tobias, jemand der Baader nicht fotografiert hat und sich dann darüber fürchterlich geärgert hat. Der quasi die Nachfolge von Tobias in diesem erotischen Zwischengeschäft übernommen hat. Das ist Will McBright. Der hat viel für twen fotografiert.

Der ärgerte sich, dass er Baader nicht fotografiert hat?

Ja nun, weil dessen physische Attraktion – nennen wir die jetzt mal so – quasi ikonisch für eine Attraktion der frühen Sechzigerjahre steht, also für eine Zeit vor der Politisierung, die aber nichtsdestotrotz als Aufbruch oder auch Widerstand zu sehen ist, mit Rock ’n’ Roll und der frühen Popgeneration.

Das Androgyne, Weiche?

Richtig, das gehört ja dann zu den Insignien der frühen Beatles. Das gehört zu den Insignien auch der Rolling Stones. Baader verkörperte als junger Adonis etwas, was die politisch Gebildeteren in dieser Generation schon hinter sich hatten.

Und Will McBright hat gesagt: Verdammt, hätte ich?

Das ist Gossip, das machte so die Runde. McBright ist ja ursprünglich als amerikanischer GI nach Deutschland gekommen und dann hier hängen geblieben. Für mich ist er in gewissem Sinne deutscher als viele andere. Wir haben McBright auch in die „Deutsche Fotografie“ mit aufgenommen, weil Klaus Honnef und ich uns hier absolut einig waren, obwohl wir sehr verschiedene Begriffe vom Deutschen haben. Für mich ist die Sprachanalyse wichtig dabei.

Das ist erklärungsbedürftig.

Nun, es gibt dazu sehr passende neuere hirnphysiologische Untersuchungen der Psychophysik, wie man das nennt, oder der Neurophysiologie.

Die taugen einem Kunsthistoriker?

Also wenn ich überhaupt eine wissenschaftstheoretische Heimat habe, dann ist das die Sprechakttheorie mit John L. Austins „How To Do Things With Words“. Auch Hinnerk Emrich hat das als Gastprofessor für Wahrnehmungspsychologie neulich an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe sehr schön vorgetragen: Wir nehmen Information durch Auge oder Ohr auf, die über die Nerven in eine relativ kleine Zone oberhalb des Mittelhirns transportiert wird, in der das, was Emrich eine Zensurinstanz nennt, etabliert ist.

Diese Instanz wacht worüber?

Darüber, was vom Informationsmaterial zurücktransportiert wird in den Schläfenlappen, wo erst die Entscheidung darüber stattfindet, was im alten deutschen Wortsinn wahrgenommen wird. Und das tut sie anhand von gespeicherten Bildern und anderen Elementen. Mit diesem Wissen kann man nun hingehen und sagen: Klar, in dieser Zensurinstanz ist auch Sprache gespeichert. Insofern ist die so genannte Muttersprache oder die Sprachen, die man sehr jung empfängt, auch ein Konstitutiv dessen, was man sieht. Also mit dem ollen Goethe: Man sieht nur …

was man weiß.

So. Wobei diese Sprachkonstituierung selektierend negativ wirkt. Sie schließt Eindrücke aus. Was eine sehr gesunde Reaktion ist. Die Kehrseite ist allerdings, dass wir damit vieles auch nicht zulassen, was uns bereichern könnte. Da seh ich Prägungen, wie das Medium Fotografie, welches erstmalig in der Technikgeschichte größte Mengen von Bildern herstellt und bereitstellt, bei uns die Selektionsformen verändert.

Um bei der Zensur durch Muttersprache zu bleiben: Was unterscheidet deutsches Sehen und Fotografieren von angelsächsischem Sehen?

Ja, dazu hab ich Ihnen hier gleich ein neueres Projekt mitgebracht, für das ich an einem Buch mitgearbeitet habe, das ein deutschsprachiges, aber kein deutsches ist. Es geht um den Schweizer Fotografen Michael Aschwanden, der an der Achsenstraße zwischen Luzern und Flüelen am Vierwaldstätter See dreißig Jahre lang einen Stand als so genannter „Freilichter“ gehabt hat.

Zu Deutsch Freilichtfotograf?

Genau. Die Leute haben vor seinem Kiosk eine Pause gemacht, und während dessen hat er sie fotografiert. Die Ausstellung wurde im Januar im Stadtmuseum Luzern eröffnet und läuft noch bis August. Für mich ist die Art und Weise, wie die Leute posieren, wie sie da stehen, etwas, das mit der Sprachstruktur zu tun hat. Gut, das finden Sie so in Italien, das finden Sie tendenziell überall. Es muss also um Details gehen. Wie weit, beispielsweise, sind die Schultern vorgezogen?

Nennt man’s nicht Körpersprache?

Wir sind da sofort im Übergang von der Sprache in die Körpersprache. Bei Bildern erkenne ich, dass sie deutsch sind oder nicht deutsch sind, in diesem blöden Ausschlussverfahren. Erste Selektion ist, dass ich ein körpersprachliches Element in den Bildern finde, das mir sagt, das kann nicht deutsch sein oder das muss deutsch sein. Das passiert so auf der Ebene der Vermutung, die Sie vom Nachbarn haben, dem Sie gerade im Bus oder in der Straßenbahn begegnen, wenn Sie sagen, der sieht aus wie ein Franzose oder wie ein Chinese.

Es geht um Physiognomisches.

Die Mixtur ist es. Wenn wir die Physiognomie geklärt haben, arbeiten wir in dieser Zensurinstanz Element für Element ab. So weit kann man das wohl auf eine physiologische Ebene gründen. Es gibt dazu schon sehr passende Untersuchungen im Objektbereich, was die so genannte Körpersprache angeht. Der amerikanische Psychologe Irv Biederman hat in den Neunzigerjahren mit seiner Theorie der Geons 24 Grundkörper fixiert, aus denen sich nahezu alle Gegenstände des täglichen Lebens optisch in hoher Geschwindigkeit fixieren und damit wiedererkennen lassen.

Würden Sie in diesem Sinne etwas zur Körpersprache des hier Abgebildeten (mit Blick auf den Katalog) sagen?

Habitus sagt man dazu in der Soziologie seit Norbert Elias.

Würden Sie den bitte beschreiben?

Der Mann sitzt auf seiner Harley Davidson, die mit Blumen geschmückt ist. Er trägt einen sehr sportlichen, nun …

Ledermantel?

Mit Beinschonern. Die damals schon vorgeschrieben waren. Er hat staubige, dreckige Schuhe, eine Sportbrille, eine Mütze auf. Aber er hat einen perfekt sitzenden Krawattenknoten. Dazu gibt der Fotograf dem Mann eine Schulterkrümmung, die perfekt halbrund ist. Er sitzt mit vorgezogenen Schultern, ist also demnach gar nicht so sportlich, wie man das von jemandem erwarten müsste, der schnell Motorrad fährt. Der hier dagegen (schaut in den Katalog) sitzt anders. Der hat auch ’ne Harley, hat den Rücken aber weiter zurück und ’ne Arbeitsklamotte an, wie heißt das?

Overall.

Sonst hat er ganz dieselben Beinschoner und alles das.

Der könnte ein Bäcker sein, der beruflich unterwegs ist.

Richtig, ganz genau.

Dieser dagegen macht vielleicht von seinem Büro aus eine Spritztour und trägt unterm Ledermantel noch seinen Geschäftsanzug. Aber sagt das alles nicht nur Persönliches aus?

Jetzt sind wir beim Punkt. Ich würde niemals von diesen Bildern annehmen, dass Michael Aschwanden herausarbeiten wollte, ob jemand hier deutsch ist. Sondern der Mann, der fotografiert hat, hat das alles so gesehen. Deswegen kann ich seine Fotos als aus diesem Kultur- oder Sprachbereich stammend lesen. Das teilt zum Beispiel Michael Aschwanden mit August Sander, die ich in meinem Text verglichen habe, weil das Programm ein ähnliches ist. Weil zum Beispiel die Art und Weise, Menschen zu sammeln, verwandt ist.

In Ihrem neuen Buch „Fotografie im NS-Staat“ geht es auch um derartige Ikonografie?

Es geht um Verschiedenes. Erstens hat mich immer schon interessiert, die NS-Zeit nicht als Betriebsunfall der deutschen Geschichte abzuhaken, sondern sie in einen deutschen Habitus im 20. Jahrhundert hineinzustellen. Mich hat weiter interessiert, eine Klammer zu finden, mit der ich die Geschichte speziell der NS-Fotografie in eine insgesamt zu betrachtende Fotogeschichte integrieren kann, um sie im besten Sinne des Wortes zu historisieren. Allerdings dabei nicht die ständig präsente Folie des Holocaust rauszulassen. Um dann zu fragen: Gibt es einen Weg, aus dem Gebrauch eines Mediums auf eine Konstitution zu schließen, die den Holocaust ermöglichte?

Und?

Ich bin grundsätzlich erst einmal damit einverstanden zu sagen, es muss einen Hintergrund geben, warum die Deutschen so was haben tun können. Ich meine, jeder, der in deutscher Sprache Wissenschaft betreibt, muss einfach darüber nachdenken, wie weit sein eigenes Feld in diesen Prozess involviert war. Punkt.

Das wollten Sie für die Fotografie untersuchen.

Richtig. Dabei haben mich von der Sprechakttheorie bis zur Systemtheorie Luhmanns viele Ansätze animiert, sich nicht auf allzu einfache Lösungen zu verlassen, sondern auch mal die Blickwinkel umzudrehn. Für mich ist ein sehr wichtiger Ansatz, sich wenigstens arbeitshypothetisch in die Situation derer zu versetzen, die ich befragt habe. Ich habe für dieses Buch um die sechzig Altnazis interviewt, die in der Zeit als Fotografen tätig waren.

Um über Zeitzeugen an authentisches Quellenmaterial zu gelangen?

Dabei war für mich wichtig festzustellen, dass für das, was die Propagandaforscher der Generation vor mir als intentionales Verhalten fixiert haben, „die Großkapitalisten haben (mimt energische Stimme) diese und jene Propaganda in Gang gesetzt“, viele dieser Forscher den Beweis schuldig blieben, als es dann um facts and figures ging, das heißt, die Wirksamkeit dieser Propaganda auch nachzuweisen.

Gelang das mit Ihren Interviews?

Nein, ich muss es umgekehrt sagen. Diese Leute habe ich interviewt auf der Basis meines Spätachtundsechzigerzorns auf die Taten der Väter und Großväter. Was dann aber dabei rauskam, war eine sehr differenzierte Produktionsgeschichte, die, je länger ich daran arbeitete, mir immer klarer machte, dass ich damit nichts über die Rezeption weiß. So. Daraus entwickelte sich dann die Überlegung, wie kommst du der Rezeption nahe.

Sie meinen, ob die Fotografie als Staatsdesign, wie Sie sagen, auch wie gewünscht funktioniert hat?

Ja. Aber zum Wort Design möchte ich sagen: Das ist natürlich eine retrospektive Kategorie. Ich werfe sie rückwärts über diesen Bereich drüber, indem ich im Prinzip mit den Mitteln des Archäologen arbeite und nicht mit den Mitteln des Kunstwissenschaftlers. Ich analysiere in diesem Fall nicht die Produkte und ihre Produktionsgeschichte, die Bilder.

Sondern?

Mich interessiert die alltägliche Wirkung dieser Bilder. Man sieht nur, was man weiß. Das dreht sich um.

Dem kann ich nicht ganz folgen.

Das ist eben die These von der Erziehung zum Wegsehen. Dass ich hingehe und sage, wie kann es passieren, dass Menschen, die nicht dümmer sind als ich, die in ihren alltäglichen Kontexten leben, mitbekommen, dass aus ihrer Mitte, aus der Schulklasse, dem Arbeitskollegium Mitmenschen verschwinden? Selbst wenn sie sonst nix merken, merken sie doch wenigstens das. Wie muss die Konstruktion im Gehirn sein?

Dass sie das wegstecken?

Und ohne erkennbare Reaktion. So dass man hinterher in der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, mir als Kind erzählen kann, man habe es nicht gemerkt.

Sie vermuten eine veränderte Wahrnehmung.

Dieser Wahrnehmungskonstruktion bin ich auf der Spur gewesen. Daraus entwickelte sich dann meine These, die unter den Bildhistorikern durchaus heftig diskutiert wird: Indem man durch eine gigantische propagandistische Bildproduktion – und zwar von schönen Bildern, von modernen Bildern, von effektiven Bildern – die Menschen an der Wahrnehmung dieser anderen Realität gehindert hat. Deswegen hat man hinterher mit einigem Fug und Recht gesagt, ich hab’s gar nicht gemerkt. Aber man kann nicht sagen, ich hab’s nicht gesehn.

Orthodoxe Linke haben da möglicherweise schon mit Ihrer Begrifflichkeit von einer Produktion schöner und moderner Bilder Probleme. Weil, grob gesprochen, Design dieser Zeit eo ipso geschmacklos, dumm war.

Das zeigt eine völlig andere Sicht. Nein, achtundsechzig gab es ja das Wort Design in unserem Sinn noch gar nicht. Das heißt, die haben davon gar nichts gewusst. Die Fotografen waren für die irgendwelche Esoteriker, die als Büttel des Kapitals agierten, bestenfalls missbraucht wurden. Und was die Modernität angeht: Zwischen 1927 und 1932 – das hat Gerhard Paul 1990 in seiner Habilitation „Aufstand der Bilder, Die NS-Propaganda vor 1933“ sehr schön nachgewiesen – hat die NSDAP einen unglaublichen Modernisierungsschub erfahren, den man mit dem Namen Goebbels personalisieren kann. Das geht bis in Details der Selbstdarstellung, also ins Design der Partei. Die Bücher über Adolf Hitler zwischen 1928 und 1932 arbeiteten mit Fotomontage und waren aufgemacht wie russische Revolutionsbücher, vielleicht nicht ganz in der Perfektion.

Quasi im Stil einer „reaktionären Avantgarde“?

Durchaus. Die NSDAP hat sich bis 1933 ja als moderne Partei gesehen und auch als solche geriert. Aber da kommt der Punkt, wo ich heute sage, dass die hochmoderne Propaganda des Nazistaates auch grandios gescheitert ist. Das heißt, sie hat nicht so weit funktioniert, dass die Deutschen gern in den Krieg gezogen sind. Es hat 1939 nicht die Kriegsbegeisterung gegeben, die es 1914 gab. Der Zusammenbruch des Krieges beginnt Mitte 1944, als durch Papiermangel die ganzen Effektivitätsinstrumente der Propaganda kollabierten.

Sollte möglicherweise Pflichtgefühl, nicht Begeisterung mobilisiert werden?

Nein, nein, man wollte ein großdeutsches Reich konstituieren, und dazu hätte es großartiger Begeisterung bedurft. Diese in Anführungsstrichen bessere Welt war das Pseudoziel beim Wegsehen. Mittel war das Design. Dafür – und das ist wichtig – sollte die Erinnerungsproduktion der Menschen positiv sein. In dem Sinne ist die Propaganda dann wiederum doch extrem erfolgreich gewesen, insofern sie nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich dafür gesorgt hat, dass man alles, was man nicht sehen wollte, hatte sehen wollen, vergessen hat.

Weil man es, wenn ich Ihnen folge, nicht abgebildet hat.

Genau das. Dazu gehören natürlich auch andere Faktoren, ein Klima der Angst, dass es hieß, bei politischen Aktionen wäre das Fotografieren verboten. Weil man wusste, wie brutal die Polizei ist und wie hart die Gestapo ist, hat man das so stehen lassen. Womit nach dem Krieg auch viele Fotografen herumgehubert haben und gesagt haben, sieh doch mal, ich hab doch fotografiert, ist doch Widerstandsarbeit. Herr Wolf Stracher hat sein Bild nachträglich umdatiert, um seine Widerständigkeit zu demonstrieren. Ein lächerlicher Versuch der Selbstrechtfertigung. Das ist aber nicht so wichtig und nicht mein Thema. Die Klammer ist nicht die große ästhetische Produktion.

Deswegen erwähnen Sie Leni Riefenstahl auch nicht.

Weil sie nicht Kunst ist. Und kein großartiges Einzelwerk hervorgebracht hat. Riefenstahl, da kommen wir gleich noch drauf. Die Klammer ist der Alltag, wie jeder Mensch eine visuelle Erinnerung herstellen kann und soll, in der er sich selbst positiv wiederfindet. Das ist letztlich ein viel härterer Angriff als Propagandakritik als alles andere.

Weil es in die Selbstkonstruktion der Menschen eingreift, in das, was Identität ausmacht.

Richtig. Genau dort setzt der Missbrauch ein. Wichtig ist dabei aber auch Folgendes: Aufgrund der Produktionsform, auch aufgrund einer Mediengeschichte der Zwanzigerjahre war es für die Nazis vollkommen selbstverständlich, dass der Film im Unterschied zur Fotografie als Gebrauchsmedium prinzipiell eine Kunst war. Dass man beispielsweise eine Frau Riefenstahl innerhalb des Films aufbaute.

In Tradition des deutschen Bergfilmers Arnold Fanck?

Viel wichtiger ist hier der Experimentalfilmer Ruttman und seine Schneidetechnik in „Berlin, die Symphonie einer Großstadt“ von 1928. Riefenstahls große Filme, die Parteitagsfilme und 1936 der Olympiafilm, sind in weiten Stücken geschnitten wie Werbefilme. Ich hab für das Buch zwei Kameraleute von ihr interviewt. Wenn Sie Bilder von der Produktion des Olympiadefilms sehen, dann sehen Sie Walter Frentz, diesen Zweimetermann, der ganz Dünne, der immer diese Handkamera hatte für bestimmte Schüsse. Sie kennen das berühmte Foto vom offenen Mercedes – da liegt er auf der Seite, um von unten zu filmen. Und wenn Sie genau hingucken, sehen Sie, dass er noch ’ne Leica umhängen hat. Die Fotos hat’s dann auch gegeben.

Der andere?

Willy Zielke. Der war schon ein berühmter Fotograf und Fotolehrer und hatte schon seinen wunderbaren „Stahltierfilm“ gedreht, diesen Eisenbahnfilm, bevor er mit Leni Riefenstahl zusammenkam. Sie hat ihn dann auch nur mit dem Prolog vom Olympiafilm beauftragt und nichts anderem. Er ist dann zwar immer auch auf den Parteitagen gewesen und hat da im Filmteam von Leni Riefenstahl rumgehangen. Aber da hat er fotografiert. Es tauchen ja überhaupt erst seit zwei, drei Jahren so genannte Fotos aus der Zeit von Leni Riefenstahl auf, von denen ich annehme, dass sie aus solchen Quellen stammen, also Agenturmaterial sind. Das dann mit ihrem Namen zu versehen, ist für mich ein bissl unseriös.

Höre ich da einen gewissen Vorwurf heraus?

Die Dame ist für mich nicht ganz so wichtig. Sie ist nur ein Momentum, wenn auch ein durchaus wichtiges in der geschichtlichen Konstruktion dessen, was wir Naziregime nennen. Womit wir wieder bei der Modernitätskonstruktion dieses Regimes sind. Dort wurde also in vielen Feldern, das gilt auch für den Film, auch für die Mode – für die Fotografie hab ich’s ja dann beschrieben – ein Starsystem etabliert. Wobei der Superstar, wenn man so will, Hitler war, das System kommunikationsstrategisch darauf basiert, dass man den Star möglichst nie kennen lernt, dass er entrückt am Himmel ist und unerreichbar bleibt.

Die Beobachtung ist nicht ganz neu.

Aber dieses System hätte vermutlich irgendwann auch seine eigene Implosion geschaffen. Das kann man aus allen Mediengeschichten bis heute ersehen. Das ist im Fernsehen in den letzten fünfzig Jahren sehr deutlich passiert. Die großen Fernsehstars, die großen Krimis, die Straßenfeger gibt’s nicht mehr. Das löst sich auf, weil es sich immer erst vermehrt und in dieser Vermehrung unwichtiger wird. Diese Systeme entwickeln eine Art von Systemgeschichte. Das hat Luhman nun bestens beschrieben, das muss ich nicht wiederholen. Und diese Systemgeschichte ist – und das macht tatsächlich die Einzigartigkeit dieses Naziregimes aus – zum einen im Zweiten Weltkrieg, zum anderen im Holocaust kulminiert und zugleich abgerissen. Das heißt, es hat sich nicht von selbst erledigen können.

Zurück zum Missbrauch des Mediums als politisches Instrument …

Das ist eine Diskussion, die sich gerade in zwei Gebieten, über die ich viel gearbeitet habe, nämlich Architektur und Fotografie, widerspiegelt. Und es ist eine Diskussion, die tatsächlich mit der Unzulänglichkeit des Herrn Hitler als Künstler zu tun hat. Diese Art von kleinstbürgerlicher, reaktionärer, qualitativ auf jämmerlich niedrigem Niveau stehender Kunstdebatte der Dreißigerjahre – die von allen anderen, die Propaganda machten, Goebbels, Göring et cetera, gemieden wurde – war eine Debatte, die Hitler mit Heinrich Hoffmann und Rosenberg führte.

Hitler – talentloser, kleinstbürgerlicher Amateur: Ist eine solche Charakterisierung nicht verniedlichend?

Das ist ein anderer Blickwinkel. Sie müssen, bitte schön, den Blickwinkel ändern, wenn man das konsequent durchdenkt, was ich jetzt publizieren werde. Für mich ist Hitler der Popstar. Er ist also die Figur, die als Projektionsfigur alles verkörpert, die das aber nicht selbst originär bringt.

Hm.

Ontopoietisch entsteht der Popstar durch eine Vielzahl kleinerer Wirkungen, die sich in geeigneter Weise aufschaukeln. Natürlich gibt es inhärente Qualitäten, die dieser Mann gehabt haben muss, dass er zum Darsteller des Ganzen wurde. Dabei kann man das Amalgamieren von Gedanken, von Ideen, was in Hitlers „Mein Kampf“ stattfindet, das Amalgamieren von Körperhaltungen, von Posen, das in diesen Rednerübungen mit Schallplatte im Hoffmann’schen Atelier passiert, von – wie hat’s Speer genannt? – bohemienhaftem Leben und extremen Würdeformeln bei der Selbstdarstellung des Staates, diese Amalgame könnte man als Design bezeichnen. Das sind Prozesse, die dem think tank einer fähigen Agentur enstammen könnten.

Deshalb wählten Sie den Designbegriff?

Das ist jedenfalls für mich die Grundlage der Übernahme des Designbegriffs. Ich bin ja nun fürchterlich gescholten worden für diesen Titel „Fotografie als NS-Staatsdesign, ein Medium und sein Missbrauch durch Macht“. Aber wir müssen einfach überlegen, wenn Propaganda dann wirksam ist, wenn sie in den Alltag, in die Selbstkonstruktion der Menschen hineinarbeitet, dann ist aus heutiger Begrifflichkeit heraus dasjenige, das, was diese Selbstkonstruktionsvorlagen anbietet, Design.

Eine im Prinzip aktuelle Diagnose. Sollte man nicht auch mal über strukturelle Kontinuitäten einer Erziehung zum Wegsehen hier und heute nachdenken, die komplementär ja auch eine Erziehung zum Hinsehen ist?

Wobei ich eigentlich dazu neige, diese Prozesse zumindest in den letzten zehn Jahren auf bestimmte Lebensphasen und auf bestimmte soziale Gruppen und Kontexte fixiert zu sehen, das als nicht mehr so gesellschaftsbestimmend zu betrachten, wie es das noch vor zwanzig, dreißig Jahren war. Ich hab den Eindruck, das beherrschende Prinzip Mode hat da an der Stelle auch ausgedient, mit diesem „dazuzugehören-nicht-dazuzugehören“. Ob dieses Begehren nun selbst konstruiert ist oder ein Akt, der von außen konstruiert wird. Das müsste man genauer untersuchen. Da erhielte man möglicherweise eine Art von Matrix, in der man diese Sachen besprechen könnte.

Um auf den Nationalsozialismus zurückzukommen …

Gut. Als Designsystem konstruierte dieses Starsystem tatsächlich Realitäten, die nicht mehr auf ihren Wirklichkeitscharakter befragt werden müssen. Das ist absolut neu in der Zeit. Das ist auch der Unterschied zum New Deal unter Roosevelt. Da hat man diese Stars nicht konstruieren können. Das kommt in Amerika erst in den Vierzigerjahren. Das kommt erst mit der Kriegspropaganda und deren Nachfolger, Frankieboy und so weiter.

Ein bisschen makaber, nicht wahr: Hitler als Trendsetter.

Genau darum meine ich, wir müssen da immer noch Arbeit leisten, Geschichtsarbeit, auch Trauerarbeit im Mitscherlich’schen Sinne. Indem wir akzeptieren, dieses Starsystem ist da etabliert worden, die Anlässe mögen so nichtig und lächerlich gewesen sein, wie’s nur gerade ging, aber dazu haben die verschiedenen Medien – und das ist der Punkt – jeweils ihren Beitrag geleistet.

Das lernen wir dann vielleicht aus dieser Erziehung zum Wegsehen.

Ja, vielleicht. Die Selektion, für das, was ist, was wahrgenommen wird und werden soll, führen heute die Medien für uns durch. Die Sender senden alle dasselbe. Deswegen muss man Bücher schreiben, Vorträge halten, Ausstellungen machen und solche Dinge, weil das eine mediale Kommunikation ist, die auf einer anderen Geschwindigkeitsebene stattfindet und damit vielleicht zu Wahrnehmungs- und Verhaltensänderungen führt.

NIKE BREYER, Jahrgang 1955, lebt in Marburg und ist taz.mag-Autorin seit 1999. Rolf Sachsse traf sie in Bonn angelegentlich einer Leni-Riefenstahl-Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland