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Archiv-Artikel

Alle Menschen sind ungleich

Der Bremer Filmemacher Karl Fruchtmann ist tot. Der Jude, der den Holocaust überlebte, bot in seinen Filmen keine Utopien, aber die Wirklichkeit und Hoffnung. Eine Laudatio als Nachruf

„Wenn es in dieser Hölle Menschen gegeben hat, die welche geblieben sind, dann kann man an den Menschen glauben“Deine Filme sind keine Mehlspeisen, sondern Hauptgerichte, die nicht jedem schmecken

Von Helmut Hafner

Karl Fruchtmann überlebte den Holocaust und wurde nach dem Krieg Filmemacher bei Radio Bremen. Am Dienstag starb er 87-jährig in Bremen. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt er 1991 den Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon in Bremen. Wir dokumentieren die damalige Laudatio von Helmut Hafner.

(...) Nein – versöhnen will Karl Fruchtmann nicht. Er will erinnern und wachrütteln, er will Dämme einbrechen, die mit viel Mühe aufgebaut wurden, um sich vor Einsichten und Verantwortung zu schützen, er will aufklären, die Wahrheit sagen, und seine Texte gehen in dieser Hinsicht fast immer an die Grenze des Möglichen, des Erträglichen. (...) Der bislang letzte Film von Karl Fruchtmann handelt von Emile Zola und dessen Einsatz für den jüdischen Hauptmann Dreyfus. (...) Der Titel, den Karl für diesen Film gewählt hat, heißt „Trotzdem“. Trotzdem, dieses Wort beschreibt die menschliche Haltung Zolas, der trotz seiner Schwäche, seiner Müdigkeit, seiner Angst für Wahrheit und Gerechtigkeit einsteht, gegen die Mächtigen der Zeit, gegen Militär und Justiz antritt, der selber vor Gericht geschleppt wird und außer Landes fliehen muss. Fruchtmann stellt mit diesem französischen Schriftsteller den Deutschen einen Mann vor, der Tugenden praktiziert, die gerade in Deutschland selten anzutreffen sind: Mut, Aufsässigkeit, Unvernunft.

(...) Du hast einmal formuliert: „Alle Intellektuellen sind Außenseiter, kein schöpferischer Mensch geht restlos auf in den Mechanismen der Gesellschaft. Jeder, der schöpferisch tätig ist, steht zunächst mit einem Fuß außerhalb der Gesellschaft, um mehr und anderes zu sehen als die anderen.“ Solche Sätze beschreiben Deine eigene Haltung, Deine eigene Außenseiterrolle, die noch verstärkt ist durch die Tatsache, dass Du als Jude in Deutschland lebst.

Das Wort Trotzdem ist auch eine Überschrift für Dein Leben. Trotzdem, das ist das Einstehen für den anderen, wie es die Menschlichkeit verlangt; ist die Hoffnung gegen die Hoffnungslosigkeit, ist der Antrieb zum Handeln gegen niederdrückende Tatsachen und gegen entmutigende Erfahrungen. (...)1933 wird den Nazis, wie Du es einmal formuliert hast, „die Macht zu treuen Händen übergeben“. Am 1. April 1933 ist der Tag des Boykotts der jüdischen Geschäfte. Im roten Meuselwitz ist die Solidarität mit Karls Vater, dem Juden Jakob Fruchtmann groß. Karls Eltern waren assimilierte Juden, denen ihr Judentum eher als Beiwerk erschien. Schon früh morgens ist das Kaufhaus Fruchtmann mit Menschen überfüllt. Und vor dem Eingang steht eine riesige Menschenschlange. Fünfzehn Mal räumt die SA das Kaufhaus. Doch immer wieder strömen die Menschen hinein. Dennoch: Jakob Fruchtmann überlebt diese Aufregungen nicht. Er stirbt wenige Tage danach. Drei Jahre später werden Karl und sein Bruder Max verhaftet.

Du kommst zuerst ins Konzentrationslager Sachsenburg bei Chemnitz, später nach Dachau. Seine Identität kann Karl Fruchtmann bewahren, weil er weiß, dass er auf der richtigen Seite steht, weil er durchdrungen ist vom Kampf gegen das Böse, vom Kampf gegen den Faschismus. Die Erinnerung an diese Zeit ist lebendig und doch verblasst. Sie ist überlagert von den Erfahrungen anderer in anderen Lagern: Wenn man Dich fragt, was diese Zeit für Dich bedeutet hat, dann winkst Du ab, verweist auf Auschwitz, Sobibor und Majdanek, nennst Dein Lager im Vergleich dazu einen Kindergarten.

Die Stufen menschlichen Leidens sind endlos. Du wirst später über die Verfolgung und Ermordung der Juden nur berichten können, weil Du den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt hast. Wer ihn berührt hat, so schreibt Primo Levi, ist nicht mehr wiedergekommen, oder seine Beobachtungsgabe war durch das Leid und das Nichtbegreifen gelähmt.

1937 werden Karl und sein Bruder Max freigelassen, freigekauft, mit der Auflage, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. (...) Du hast einmal die Phase Deines Lebens nach der Vertreibung aus Deutschland eine „Fußballexistenz“ genannt. Dies bedeutet, dass Du lange Zeit die Richtung Deines Lebens nicht selbst bestimmt hast, sondern wie ein Ball getreten wurdest. Von dieser Erfahrung her kommt es wohl, dass Du Dich an Jahresdaten kaum erinnern kannst, dass Du Dein Leben nicht zeitlich, sondern räumlich gliederst.

Um seine Träume zu erfüllen, bricht Karl Fruchtmann alle Brücken ab und geht mit seiner Frau zurück nach Israel. Vier Berufe kommen in Frage: Psychoanalytiker, Schiftsteller, Historiker und Regisseur. 1958 kommt ihr in die Bundesrepublik, und Du beginnst, 42 Jahre alt, als Kabelträger beim WDR. Es geht dann erstaunlich schnell. 1962 führt Karl zum ersten Mal selbst Regie, bei einem Krimi mit dem Titel „Ein Todesfall wird vorbereitet“. Bald bist Du ein bedeutender Regisseur elektronischer Fernsehspiele. Radio Bremen wird auf Dich aufmerksam. Und es beginnt eine bis heute andauernde Freundschaft zwischen Dir und Mitarbeitern des Senders Radio Bremen. (...)

Seit 1969 lebst Du mit Deiner Familie in Bremen. In diesem Jahr wird der Film „Kaddisch nach einem Lebenden“ gezeigt, der ein „Meisterwerk des Fernsehens“ genannt wird. Ein Jahr später, 1970, verfilmt Karl Fruchtmann ein eigenes, bei Rowohlt erschienenes Bühnenstück mit dem Titel „Plötzlich“, in dem die Ohnmacht des Intellektuellen gegenüber der nackten Gewalt dargestellt wird. Von dem Film „Kaddisch“ an schreibt Karl für die meisten seiner Filme das Drehbuch selbst. Zwei seiner Berufswünsche haben sich erfüllt, er ist Autor und Regisseur. Bis heute zeichnest Du für mehr als 30 Fernsehfilme verantwortlich. Zugleich hast Du als Theaterregisseur in vielen Städten Deutschlands und Europas gearbeitet.

Ich habe Karl im Herbst 1980 kennen gelernt. Janet erzählte mir, dass Du an einem Film arbeitest, der Dich erschöpft und wundreibt. Dieser zweiteilige Film „Zeugen. Aussagen zum Mord an einem Volk“ wurde im März und im November 1981 gesendet. Ich habe beide Teile gesehe, und dieser Film hat mein Leben verändert. Ich hatte mich bis dahin ausgiebig mit dem deutschen Mord an den Juden beschäftigt. Ich hatte durch persönliche Begegnungen eindringlich erfahren, dass man, nach Karls Worten, nicht von sechs Millionen Ermordeten sprechen soll, sondern davon, dass sechs Millionen Mal ein Mensch ermordet worden ist. Ich wusste einigermaßen Bescheid über den millionenfachen Mord an den Juden, für den es bis heute kein zureichendes deutsches Wort gibt.

Und dann kam dieser Film von Karl, „Zeugen“, der mir bis heute im Kopf und in der Seele sitzt. In diesem Film sind mir Menschen begegenet, Juden, die Auschwitz überlebt haben, die Zeugnis abgelegt haben über all das, was sie erfahren und gesehen haben (...). Sie haben mich nicht nur in Trauer versetzt, sie haben mir die Kraft gegeben, mein Leben neu zu orientieren. Die Botschaft dieser Zeugen hat einer von ihnen so ausgedrückt: dass das, was war, nicht mehr zurückkommen soll, und die Menschen sollen verstehen, was es war. Und wenn ich nur einen kleinen Stein in die Mauer gebaut habe, damit wir bauen eine Mauer zwischen Schlecht und Gut, damit das Gute herrschen soll, bin ich zufrieden.“

Karl Fruchtmann hat zu dem Film „Zeugen“ ein Buch mit dem gleichen Titel veröffentlicht. Aus dem letzten Kapitel der Vorbemerkungen will ich zitieren, weil hier eine Erkenntnis formuliert wird, von der nach meiner Überzeugung alle Politik heute auszugehen hat: „Auschwitz ist das Ende vieler Illusionen und Lügen. Der selbstzufriedene Optimismus der Zeit, die mit Auschwitz endete, ist in Rauch aufgegangen. Der Glaube an die Perfektionierbarkeit des Menschen durch die Zivilisation ist in den Öfen verbrannt. (...) Auschwitz zeigt die unbegrenzte Formbarkeit des Menschen. Das ist sein größter Schrecken. Viele Zeugen sagen, sie glauben trotz Auschwitz an den Menschen, und antworten, befragt, wie sie das könnten: Wenn es in dieser Hölle Menschen gegeben hat, die welche geblieben sind, dann kann man an den Menschen glauben. Vielleicht ist ihre Hoffnung und die Formbarkeit der Menschen unsere Hoffnung.“

1985 dreht Karl Fruchtmann den Film „Ein einfacher Mensch“, der erst 1987 gesendet wurde. Dieser Film hat die höchste Auszeichnung erhalten, die für Fernsehfilme in Deutschland vergeben wird, den Adolf-Grimme-Preis in Gold. Der Film handelt von Jakov und Luba Zilberberg, den Kindern Rachel und Itzu und den Enkelkindern. Jakov war in Auschwitz Mitglied eines Sonderkommandos, das die Leichen aus den Gaskammern holen und verbrennen musste. Karl Fruchtmann hat Jakov während der Dreharbeiten zu dem Film „Zeugen“ kennen gelernt. In diesem Film „Ein einfacher Mensch“ bringt Karl die ganze Familie zum Reden, auch Jakov, dem es am schwersten fällt. Durch Dein Verstehen und Deine Einfühlungskraft, durch behutsames Fragen und beharrliches Nachfragen ist es Dir gelungen, dass diese Menschen sich Dir anvertrauten und ihr Leben für uns erzählten. Wir erfahren die Gräuel der Henker und Mörder, sehen und erleben die menschliche Zerstörung, die bei Jakov und Luba fortdauert. Und gleichzeitig spüren und sehen wir die Menschlichkeit der Opfer, ihre Unzerstörbarkeit. Während der Dreharbeiten, dies zeigt sich im Film selbst, verändert sich die ganze Familie. (...) Plötzlich kommt Licht in die Familie. Zum ersten Mal hören die Kinder ihren Vater, beginnen ihn zu verstehen, auch sein Schweigen. (...)

Fast alle Filme von Karl Fruchtmann, die ich gesehen habe, haben mich gepackt und tief berührt. Auch wenn der Kopf noch vollgestopft war von Bildern und Sätzen, blieb dennoch eine auffallende Klarheit des Denkens und Empfindens. Ein Beispiel dafür ist Dein Film „Krankensaal Nr. 6“ nach einer Erzählung von Anton Tschechow. Es ist ein Film über das Quälen von Menschen, über das Demütigen und Erniedrigen der menschlichen Kreatur. Und es ist ein Film der Auflehnung gegen die Unmenschlichkeit. (...)

Das Krankenhaus hat einen Raum, den Krankensaal 6, der für denjenigen reserviert ist, die nirgendwo unterzubringen sind, hauptsächlich Leute, die man für geisteskrank erklärt. Hier lebt der menschliche Abfall, der zusammengekehrt wird und irgendwo gelagert werden muss. Für diese Menschen geschieht nichts, im Gegenteil: Sie werden geschlagen und gequält. (...) In der ersten Szene sieht man den Irren Gromow im Krankensaal herumlaufen, und er spricht: „Wie leben wir? Kann man denn so leben? Wir versinken im Unrat, wir ersticken im Schlamm, das Gute wird verhöhnt, der Schwache gequält, die Wahrheit geschändet, das Reine beschmiert, und die rohe, blöde Gewalt tritt das Recht mit Füßen. (...)

Und dann erzählt Gromow seinen Traum: „Eines Tages wird das alles anders. Eines Tages wird der Mensch zum Menschen. (...) Kleine Kinder werden zum Vater kommen und fragen: Vater, was ist das, Unrecht? Was ist das, Gewalt? Daran glaube ich. Ja, das wird kommen.“ Natürlich sind diese Worte von Karl Fruchtmann, nicht von Tschechow.

(...) Deine Filme, Karl, sind keine Mehlspeisen, keine Vor- und Nachspeisen, sondern Hauptgerichte, die nicht jedem schmecken, deren Verzehr aber lebenstüchtig und lebensfähig macht. Deine Filme sind keine Leitartikel oder Kommentare, sie sind Dokumente, Reportagen und Analysen des Lebens, die ihre Gültigkeit behaupten und bewahren. Du hast in Deinen Filmen das Gesicht der Zeit gezeichnet, ein Gesicht der Zeit, das aus Menschengesichtern besteht, voller Schmerz und Trauer, voller Großmut und Hoffnung, voller Kampf für Würde und Wahrheit. Deine Filme verkünden keine befreienden Botschaften; sie unterstützen nicht den guten Willen von Menschenfreunden, die an Gerechtigkeit und Humanität appellieren, sie malen keine Utopien; sie sind nicht erhebend und erbaulich; sie vertrauen nicht auf die Gutheit und Barmherzigkeit der Menschen; sie sind keine Instrumente einer Pädagogik zur Erziehung des Menschengeschlechts. Und sie sind es trotzdem, weil sie Kunst sind. Zentraler Inhalt Deiner Filme ist die Wirklichkeit des menschlichen Lebens, der Du Dich mit Hilfe der Kunst des Wortes und des Bildes anzunähern versuchst. Dabei trägst Du die Wahrheit nicht wie eine Fahne vor Dir her. Aber Du hast erfahren, wie gefährlich die Lüge sein kann, manchmal sogar tödlich. Die Wahrheit ist nicht immer erkennbar, aber erkennbar ist die Lüge, die immer quer liegt über dem möglichen Weg zur Wahrheit.

Ein anderes Fundament Deines Denkens und Handelns ist die Erkenntnis, dass der Satz: Alle Menschen sind gleich, falsch ist. Richtig muss es Deiner Überzeugung nach heißen: Alle Menschen sind ungleich. Dieser Satz enthält die Forderung, jedem Menschen das Recht, ungleich zu sein, zu gewähren. Es ist das Grundrecht eines jeden Menschen, anders zu sein. Dieses Recht, anders zu sein, ist auch eine Überschrift für Deine eigenes Leben.