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Archiv-Artikel

Weißer Krieger will nicht weichen

Der 40-jährige Andreas Sidon ist Deutscher Meister im Schwergewichtsboxen und verteidigt seinen Titel heute in Magdeburg gegen Willi Fischer. Zum reinen Faustkampf kam der ehemalige Kickboxer spät, Profi wurde er sogar erst mit 36 Jahren

„Optimal ist, sein Geld mit dem zu verdienen, was einem Spaß macht“

von UWE BETKER

Er ist wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit, wie ein Exemplar einer schon ausgestorbenen Gattung. Nicht nur aufgrund seines Alters ist er ein Dinosaurier des Leistungssports. Er stellt auch so etwas wie einen Rückfall dar in die mythische Zeit des Sports, als die Distanz zwischen umjubelten Athleten und Zuschauern noch sehr viel kleiner war als heute. Andreas Sidon ist Preisboxer in Deutschland. Vor allem aber ist er ein Sportler zum Anfassen. Die Fans lieben ihn, und er liebt seine Fans, für die er sich auch Zeit nimmt.

Kein Experte hielt ihn je für ein „Jahrhunderttalent“ des deutschen Boxsports, dem eine große Zukunft bevorsteht. Mit seinen 40 Jahren ist Sidon inzwischen auch viel zu alt, um als Talent durchzugehen. Aber er hat sich mit Zähigkeit, Härte und Willenskraft seinen Platz in der Profiboxszene erkämpft, und er ist willens, ihn zu behaupten, solange er kann. Der in Wuppertal geborene und heute im hessischen Gießen lebende Sidon kommt aus keiner Kaderschmiede des Leistungssports. Ein turbulentes und abenteuerliches Leben ließ ihn auf vielen Umwegen zum Profiboxer werden. Er ist amtierender Deutscher Meister im Schwergewicht, und er wird alles daransetzen, seinen Titel heute in Magdeburg im Vorprogramm zum Weltmeisterschaftskampf zwischen Sven Ottke und David Starie gegen den Frankfurter Willi Fischer zu verteidigen.

Sidon war früh auf sich gestellt: Seine Eltern starben bei einem Autounfall, als er zehn Jahre alt war. Es folgten Heime und abgebrochene Lehren. Sport nahm aber schon immer großen Raum in seinem Leben ein und war lange Zeit eine der wenigen Konstanten darin. „Sport zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben“, sagt Sidon, „es ist ein Mittel zum Überleben.“ Er spielte Fußball, Handball, Tischtennis, und er schwamm. Alle Sportarten betrieb er mit großem Ehrgeiz. Mit 25 Jahren kam er zu den asiatischen Kampfsportarten, und er wusste, was er in Zukunft machen wollte. Er wollte nicht seinen erlernten Beruf als Landschaftsgärtner ausüben. Er wollte seinen Lebensunterhalt mit Sport verdienen, am liebsten eine eigene Kampfsportschule haben. „Die optimale Form von Leben ist, sein Geld mit dem zu verdienen, was einem Spaß macht.“

Nach einem Umweg über Spanien, wo er zwei Jahre bei einer Timesharing-Firma arbeitete, ging er nach Thailand. Er wollte dort das authentische Thaiboxen erlernen. Als seine Ersparnisse zu Ende gingen, kämpfte er in Strandbars gegen Einheimische und Touristen. Dabei waren die ausländischen Touristen und die US-amerikanischen Soldaten die leichteren Gegner. Dort erhielt er auch seinen Kampfnamen „Weißer Krieger“. Als er nach Deutschland zurückgekehrt war, wurde er schnell deutscher Meister und Europameister im Kickboxen, später sogar Vizeweltmeister im Thaiboxen (1995 in Bangkok) und 1997 Weltmeister im Kickboxen.

Um seine Kampftechnik zu verbessern, fing Sidon mit Amateurboxen an. Nach weniger als fünf Jahren war seine Amateurkarriere jedoch schon zu Ende. Mit 36 Jahren, gerade als er anfing, erste Erfolge zu haben, fiel er unter die Altersbegrenzung des Deutschen Amateur Boxverbandes (DABV). Er war mit seinem Verein BC Magdeburg Mannschaftsmeister der Bundesliga und beim renommierten Chemie-Pokal in Halle Zweiter geworden. Er wollte aber nicht aufhören und wurde Profi. Aufgrund seines Alters nahm ihn keiner der großen Veranstalter unter Vertrag. Er hatte keinen Manager und keinen Trainer. Sein Ziel war es, zehn Profikämpfe zu bestreiten, um damit für seine geplante Sportschule Werbung zu machen.

Boxer, die bei einem der großen Veranstalter unter Vertrag sind, werden kontinuierlich und vorsichtig mit ausgesuchten Gegnern aufgebaut. Nicht so Sidon. Er nahm jeden Kampf an, den man ihm bot. Da er erst als Erwachsener mit dem Boxen angefangen hat, hat er bis heute technische Defizite. Vieles lernte und lernt er im Wettkampf. Er fuhr mit seinem Auto kreuz und quer durch Europa zu seinen Kämpfen. Er boxte in Finnland, Frankreich, Tschechien und natürlich auch in Deutschland.

Bereits bei seinem zweiten Auftritt als Profi sorgte Andreas Sidon für Aufsehen. Im Mai 1999 boxte er in einem Theater in Prag gegen Nikolai Walujew. Der russische Meister sah furchteinflößend aus. Mit seinen 2,17 Metern war er ganze 20 Zentimeter größer als Sidon und in 19 Profikämpfen ungeschlagen geblieben. Nur drei seiner Gegner hatten den Schlussgong stehend erreicht. „Ich wusste durch mein Sparring mit Timo Hoffmann, der auch eine Riesenkante ist, dass große Boxer auch Nachteile haben, z. B. bei der Sauerstoffversorgung“, erzählt Sidon. „Ich war überzeugt: Wenn ich mit dem Mann über die Runden gehe, ist das ein Sieg für mich. Denn mit einer Niederlage bekäme ich danach leichter Kämpfe.“ Bei zu vielen in seinen ersten Kämpfen wäre er hingegen von den Managern anderer aufstrebender Boxer als zu gefährlich eingestuft worden und es hätte ihn keiner mehr genommen. Sidon schlug sich bravourös. Allein die Tatsache, dass der kleinere und unerfahrenere Boxer den Kampf aufnahm und den Sieg suchte, brachte Sidon die Unterstützung der Zuschauer ein. In der dritten Runde passierte dann etwas Unerwartetes: Der Ringrichter brach den Kampf unnötigerweise ab, nachdem Sidon einige Treffer hatte nehmen müssen. Die Situation eskalierte, als das Publikum, das Schiebung vermutete, Gegenstände in den Ring warf. Sidon einigte sich mit Walujew darauf, den Kampf weiterzuführen. Der Referee verließ den Ring. Irgendjemand machte den Zeitnehmer und sogar die Nummerngirls zeigten weiter die Runden an. Die beiden Boxer brachten die angesetzten sechs Runden vor einem begeisterten Publikum zu Ende. Der Fight steht als „no contest“ im Kampfrekord von Sidon.

Es folgten weitere Kämpfe, und schließlich fand er auch einen Manager und mit Ex-Europameister Manfred Jassmann einen Trainer. Er wurde Internationaler Meister von Österreich, gewann die Internationale Deutsche Meisterschaft und verlor sie wieder. Zurzeit ist er der Deutsche Meister im Schwergewicht. Andreas Sidons Kampfrekord: 25 Kämpfe, 19 Siege (17 durch K. o.), fünf Niederlagen, einer ohne Wertung.

Wie schon so häufig in seiner Karriere, geht der allein erziehende Vater von zwei Kindern auch heute in Magdeburg gegen Willi „de Ox“ Fischer als Außenseiter in den Kampf – eine Position, die Andreas Sidon mag. Schon oft hat er die Experten eines Besseren belehrt. Erst in seinem vorletzten Kampf hat er das junge aufstrebende Talent Marcel Beyer nach Punkten geschlagen. Beyer ist seitdem nicht mehr in den Ring gestiegen. Sidon aber ist immer noch da und nimmt immer noch jede Herausforderung an.