: Rasendes Gefühl
Vergeltung? Nichts fürchteten die Deutschen nach dem Nationalsozialismus so sehr wie die Rache ihrer Opfer
VON JAN FEDDERSEN
Die Fantasie, dass eines Tages Opfer von Verhältnissen sich wehren würden, ist allen Tätern gemein – alle wissen, dass ein Tag der Abrechnung kommen wird. Im deutschen Alltag der Nachkriegszeit drückte sich das Bewusstsein von monströser Schuld in einer Fülle von Ressentiments gegen Juden aus. Noch in Martin Walsers Friedenspreisrede aus dem Jahr 1998 in der Frankfurter Paulskirche kam es überdeutlich zum Vorschein. Von Moralkeule und irgendwann doch bitte endender Schuld sprach der Schriftsteller. So stellen sich nichtjüdische Deutsche eben den Juden vor: dass er irgendwann sich rächen, Vergeltung üben wird für all die Kränkungen, Zurückweisungen – und selbstverständlich, von diesem Umstand war ja Walsers Ansprache getränkt, vom nationalsozialistischen Mord an den europäischen Juden.
Bis in die Jetztzeit wird im Alltag – wenn auch nicht mehr in der politischen Mitte – von den nimmersatten Juden gesprochen; davon, dass sie, die Juden, doch langsam mal genug Kapital aus dem Holocaust gezogen hätten. Es murmelt noch, mag es auch schwächer geworden sein, aber diese Legende von den Juden, die aus der Verfolgung gegen sie auch noch Pekuniäres schlügen, ist nur ein Spiegel des mindestens unbewusst wachen Schuldbewusstseins: Der Jude, der bereichert sich auch noch an seiner eigenen Ermordung – typisch Wucherer.
Obendrein schimmert in dieser Rede auch noch hindurch, dass Juden sich offenbar nur finanziell der Rache versichern können – als ob dies nicht gerade als ein Signum von Zivilisiertheit gelesen werden könnte. Noch in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts hielt sich die Mär, die Juden, ob im Warschauer Ghetto wie in Deutschland, in Krakau wie in Wilna, hätten sich nicht zu wehren gewusst, wie Schafe, die beim Gang zum Messer des Schlachters nicht zu blöken wissen. Wenigstens ein Teil der Wahrheit steht in Jim G. Tobias’ und Peter Zinkes Buch „Nakam – Jüdische Rache an NS-Tätern“ (Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000) zu lesen. Dass unter anderem überlebende Juden nach 1945 erschöpft vom Kummer, aber noch hell genug, sich ihren Traumatisierungen nicht zu ergeben, planten, Trinkwasserbrunnen in deutschen Metropolen zu vergiften.
Es waren die sogenannten Displaced Persons, die, rasend vor Schmerz, nicht irre werden wollten; eben aus Konzentrationslagern befreit, ohne Anhalt wie Adresse in Deutschland, furchtsam, noch Nazis zu begegnen, die ihnen abermals ans Leder wollten, dem Frieden kaum trauend, die diese Aktionen vorbereiteten. Man kann den Vorsatz dieser Menschen nur loben, dass sie überhaupt die psychische Restgesundheit aufbrachten, diese Idee überhaupt ins Nähere zu konkretisieren – um sie dann doch zu verwerfen. Nicht aus Angst, sondern aus einem Gefühl von Sinnlosigkeit heraus. Es komme auf das Leben an, nicht auf den weiteren Tod!
Erstaunlich an den nie exekutierten Projekten der Rache ist weniger, dass man von ihnen weiß, sondern mehr, dass sie nicht tatsächlich umgesetzt wurden. Einige wenigstens versuchten, das realistisch Notwendige zu denken: an jenen Vergeltung zu üben, die aus purer Habgier und Mordlust die Ihren missachtet, verfolgt und ermordet hatten. Aber weshalb gab es nicht mehr von ihnen? In Primo Levis Buch „Die Atempause“ ist von Resignation der Opfer die Rede, von Erschöpfung und von dem lähmenden Gefühl, auf dieser Erde keinen festen Tritt mehr zu finden. Es liest sich wie ein Befund über Traumatisierte – die Ruhe um jeden Preis war wichtiger als jede Handlung, die die Peiniger hätten erleiden müssen.
Ruhe und Frieden, Aversion und Ekel vor Gewalt: Jan Philipp Reemtsma beschreibt akribisch das Ende des 20. Jahrhunderts in seinem Buch „Vertrauen und Gewalt. Versuch über die besonderen Konstellationen der Moderne“ (Hamburg 2008) über die Anstrengung gerade in westlichen Gesellschaften, Gewalt moralisch wie strafrechtlich konkret zu ächten. Wurden, kurz gesprochen, einst nur Mord und Raub mit Verdikten belegt, existieren heute in allen möglichen Ländern Antidiskriminierungsgesetze, Schutzpolicen quasi zur Thematisierung mannigfaltiger Kränkungen und Entwertungen. Heutzutage gilt: Rache tut nicht gut. Ein Opfer, das diesen Satz hört, wird sich fragen: Ich bin geschlagen, getreten, missachtet worden – weshalb denn darf ich meinem Täter nicht wenigstens kräftig einen über den Schädel ziehen? Oder dass er wenigstens aus dem Alltag der Anständigkeit gezogen wird?
Gewalt, also auch Rache und Vergeltung, sind unschicklich. Das ist ein schönes Ergebnis nach diesem, insgesamt betrachtet doch recht gewalttätigen 20. Jahrhundert – übrig bleibt in jeder, in wirklich jeder Hinsicht ein Unbehagen, das gerade in den Häuten von Opfern klebt: Wo soll die böse, rächende Gewalt hin? Was macht man mit den Signatoren der Gewalt, was ist noch erlaubt? Ist es genug, mit Peinigern in ein gutes, moderiertes Gespräch zu treten? Muss es nicht vielmehr als Zumutung nehmen, wird einem Opfer geraten, sich in sein Geschick zu fügen, nötigenfalls mit psychologischer Hilfe?
Denn erstaunlich ist doch, allen geringen Mühen jüdischer Überlebender nach dem Holocaust zum Trotz, dass die meisten Angehörigen von Gruppen, die durch den Nationalsozialismus drakonisch verfolgt wurden, bis heute still blieben? Wo hat man von Vergeltungen von Zigeunern – wir nennen sie heute feinsinnig Roma und Sinti – gehört, angeschwärzt von Bürgern und Bürgerinnen, denunziert als Diebe und faules Pack? Weshalb hat es keine Hassausbrüche von Homosexuellen gegen Ärzte, Eltern, Psychologen, Richter und Staatsanwälte nach 1945 gegeben – rasende Wut gegen ein völkisch, später christlich sich begründendes Pack, das Zehntausende um Ruf, Ehre, Freiheit und Leben gebracht hat? Also gegen all jene, die mit vollem Bewusstsein alles dazu getan hatte, um ihr Leben nicht gelingen zu lassen? Warum sind denunziatorische ZimmervermieterInnen nicht wenigstens geteert und gefedert worden, hat man sie als Petzen erkannt – als BürgerInnen, die heterosexuelle, allerdings unverheiratete Paare bei der Polizei anzeigten oder homosexuelle Paare als solche?
Es ist, als Triumph gegen die Schande des Rassismus, ein viel zu milder Akt, dass da jetzt ein afroamerikanischer Mann namens Barack Obama zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Als ob das allein schon Linderung für die Herabsetzungen und, nun ja, Rassismen brächte. Ein Satz, dass auf den Trümmern von Onkel Toms Hütte nicht gleich am nächsten Tag das Weiße Haus errichtet werden konnte, mag politikstrategisch klug sein. Persönlich überfährt es jene, die unter Rassismus, Homophobie, Sexismus oder Antisemitismus gelitten haben, mit dem Gebot der Vernunft. Etwa mit vorgeblich wohlmeinendem, schulterklopfendem Gestus: Nun muss mit dem nervtötenden, larmoyanten Opfergeheul aber auch mal Schluss sein.
Wäre es nicht viel feiner, ein Lob auf all jene auszubringen, die aufrichtige Sätze sagen wie: „Rache ist ein Gericht, das man besser kalt zu sich nimmt“ oder „Na, warte, dich kriege ich noch“ oder einfach: „Ich weiß, was man mir angetan hat – und das hat seinen Preis, und das sollen alle wissen, die etwas mir antaten; irgendwann vielleicht erst, aber ganz bestimmt mit Wucht“?
Eine Vernunft, die Opfern ihre Kränkungen ausreden möchte, demütigt jene nur noch mehr. Es wäre schön, würde der Idee der Vergeltung, dem menschlichen Grundbedürfnis nach Rache, nicht mehr dieser entwürdigende Antiheiligenschein umgehängt. 2009 ist dafür ein gutes Jahr, wie alle Jahre, die da noch kommen.
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist taz.mag-Redakteur und wohnt in Berlin. Er hat im Laufe seines Lebens bereits eine Fülle von Vergeltungsakten ausgeübt – wenn auch nur im Geiste. Es war ihm danach stets angeregt zumute