Ende in Stücken, mitten im Satz

Verschwenderisch mit dem Leben, voreilig mit dem Tod: „Das magische Labyrinth“, Max Aubs monumentales, sechsbändiges Epos über den spanischen Bürgerkrieg, ist das Porträt einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Nun liegt der Romanzyklus erstmals vollständig in einer deutschen Übersetzung vor

von SEBASTIAN HANDKE

Einer immerhin sieht das Unglück kommen. „Die Spanier“ sagt José Lledo schon zu Anfang, als das Schlachten noch gar nicht so recht begonnen hat, „die Spanier wissen nie, wann Schluss ist. Wie ihre Schriftsteller“, und schiebt gleich noch eines dieser Wortspiele hinterher, von denen uns noch viele begegnen werden auf den folgenden 2.500 Seiten: „Wir enden immer in Stücken.“

Ob sich Max Aub selbst im Sinn hatte, als er diese Worte einer seiner Romanfiguren in den Mund legte? Ein Vierteljahrhundert arbeitete er an seinem großem Romanzyklus, jenem sechsbändigen Epos über den spanischen Bürgerkrieg, das dieser Tage, zu Aubs hundertstem Geburtstag, erstmals vollständig auf Deutsch zu haben ist: „Das magische Labyrinth“.

Als spanischen Schriftsteller, noch dazu als einen ihrer besten, sehen ihn inzwischen auch die Spanier selbst, und es dürfte kein Zufall sein, das seine Rehabilitierung in eine Zeit fällt, da in Spanien zaghaft damit begonnen wird, das historische Erbe der faschistischen Diktatur aufzuarbeiten. Als sich 1936 Franco und die Falangisten gegen die zweite Republik erhoben, stand Max Aub, der als Kind französisch-deutscher Eltern mit 11 Jahren nach Spanien gekommen war, auf Seiten der Republik. Doch der Eifer, mit dem einmal mehr die „beiden Spanien“ in blinder Wut aufeinander losgingen, konnte er nicht verstehen. „Hast du nicht selbst gesagt“, fragt im zweiten Band des „Magischen Labyrinths“ der Kommunist Requena den Parteigenossen Farnals, der einem alten Freund (leider Faschist) zur Flucht verholfen hat, „man müsse, um ein Fußballspiel zu gewinnen, neunzig Minuten ununterbrochen mit gleicher Besessenheit spielen?“ – „Ja. Aber wenn der Ball in der anderen Hälfte des Spielfelds ist, kannst du in deiner Nase bohren, ohne dass es den Trainer oder das Publikum was angeht.“ Dieser Konflikt zwischen aufrichtiger Freundschaft und ideologischer Solidarität, den es so nur im Bruderkrieg geben kann, liegt dem gesamten Zyklus als eines seiner zentralen Themen zugrunde – zugespitzt im Motiv des Verrats, dem Aub selbst zweimal zum Opfer fiel. Im spanischen Bürgerkrieg starben sehr viel mehr Menschen durch Denunziation und standrechtliche Erschießung als auf dem Schlachtfeld; ein Exzess sinnlosen Tötens, von dem sich das Land noch nicht erholt hat.

„Die Spanier wissen nie, wann Schluss ist“ – die manische Selbstzerfleischung des spanischen Volkes wurde für Aub zum Trauma seines Lebens. „Verschwenderisch mit dem Leben und voreilig mit dem Tod“, so erklärt es im dritten Band der alte Archivar Don Leandro in seinem langen Monolog über das iberische Wesen und dessen Verhältnis zur Gewalt. Denn der Araber hat dem Spanier den Feuerstier dagelassen. Und der brennende Stier steht auch am Anfang. Nichts geht mehr, der expressionistische Vorabend des Zyklus hebt mit einem Bild an, das die tragische Unausweichlichkeit, mit dem sich die Spanier in ihrem magischen Labyrinth verlaufen, vorwegnimmt. Zur September-Fiesta wird ein Stier, mit brennendem Pech an den Hörnern, durchs Dorf getrieben, bis das erblindete Tier tot zusammenbricht, ohne dass es je einen Ausweg aus dem Labyrinth hätte finden können.

Wenig später brennen in Barcelona die Kirchen, doch erst im zweiten Band, dem „Theater der Hoffnung“, wird aus einem Militärputsch, den man für einen von vielen hätte halten können, ein unbarmherziger Zermürbungskrieg. Es treten jene Figuren auf, die uns fortan begleiten werden: Der hinkende Arzt und liberale Sozialist Julián Templado; der schwerfällige und weltverachtende Rivadavia, angeblich Freimauer; der katholische Intellektuelle Paulino Cuartero; die Mitglieder des Studententheaters „Retablo“, das hinter der Front die revolutionäre Moral stärken soll; unter ihnen das junge Liebespaar Asunción und Vicente, deren Schicksal den roten Faden ausspinnt für den weiteren Verlauf des „Magischen Labyrinths“. In „Bittere Mandeln“, dem atemberaubenden Schlussstein des Zyklus, ist die letzte noch republikanische Stadt Zuflucht für den aufgeriebenen Bodensatz des republikanischen Spanien. 30.000 Flüchtlinge warten zusammengepfercht im Hafen auf Schiffe aus England oder Frankreich, die sie fortbringen sollen, während Francos Truppen den Ring um die Stadt immer enger ziehen.

Den letzten Irrweg im Labyrinth, der in den Hafen von Alicante führte, hat Max Aub persönlich nicht erlebt. Nach seiner Flucht über die Grenze wurde er denunziert und in französische Konzentrationslager interniert, wie es im fünften Band des „Magischen Labyrinths“ beschrieben wird. In den Lagern und im späteren mexikanischen Exil ließ er sich jedoch von jedem Zeugen, dessen er habhaft werden konnte, dessen Geschichte erzählen. Die Kladden mit Notizen stapelten sich in seiner Wohnung bis unter die Decke. Erst 1969, 3 Jahre vor seinem Tod in Mexico City, durfte er Spanien, seine verlorene Heimat, wieder betreten und war schmerzlich enttäuscht. „Es ist normal, dass es ein anderes Spanien geworden ist. Aber es gefällt mir nicht so gut. Damals war es jung, jetzt ist es voller Falten.“

Wenn es je ein Werk gegeben hat, das man mit Fug und Recht als literarisches Panorama bezeichnen kann, dann ist es das „Magische Labyrinth“. Max Aub selbst sah seine Chronik als Porträt einer Gesellschaft im Ausnahmezustand, als Gegenprojekt zur offiziellen Kriegserinnerung. Denn die Erinnerungsplaketten, die in ganz Spanien an den Kirchen angebracht wurden, blieben den Namen der gefallenen Faschisten vorbehalten. Auch heute noch, so sagt man, liegen mehr Bürgerkriegsopfer außerhalb der Friedhofsmauern als innerhalb. Daher auch jene berühmte Stelle im „Theater der Hoffnung“: die seitenlange, penible Aufzählung der 350 Friseure, die im belagerten Madrid von ihrer Zunft gegen die Faschisten mobilisiert werden. Ihre Namen sind nicht erfunden. Max Aub hatte die Liste selbst von der Gewerkschaft erhalten. Zahllose Einzelschicksale, erfundene und aufgezeichnete, verdichten sich im „Magischen Labyrinth“ zu einem unüberschaubaren Mosaik. Kaum einmal kommt es wirklich zu Kriegsschilderungen. Der Tod des Hauptmanns Herrera, ein kleines Stück über die Einsamkeit des Panzerfahrers, ist so ziemlich die einzige echte Kriegsepisode. Das Sterben ist im spanischen Bürgerkrieg eher Sache der Zivilisten, es geschieht einfach so, durch Zufall oder Denunziation, den Gesetzen der Moral ebenso enthoben wie jenen der Dramaturgie. Figuren werden entweder überhaupt nicht eingeführt oder aber mit langen, tief verästelten Abschweifungen, nur um den erzählerischen Aufwand auf der nächsten Seite mit dem beiläufig festgestellten Tod ins Leere laufen zu lassen: „Am 13. März holten sie ihn zum Spaziergang ab.“

Aubs Tonfall ist niemals engagiert, sondern trocken, geradezu lässig und durchaus zynisch, mit einer weiten Palette ständig wechselnder Stilregister. Das Wunder seines Schreibens liegt darin, dass die distanzierte Tonlage dennoch einen buchstäblich humanistischen Text entstehen lässt, den man auch noch ausgesprochen gern liest. Vor allem aber ist Aub, der über 40 Theaterstücke und Drehbücher verfasste, ein Meister des schneidenden Dialogs. Weite Strecken der sechs Romane werden von Wortgefechten bestimmt, denn der zweite Hauptkriegsschauplatz, neben den Schlachtfeldern, sind die Tertulias – sehr ernst gemeinte Versammlungen in den Cafés, in denen Intellektuelle und Kommunisten, Sozialisten und Republikaner, Anarchosyndikalisten und andere Wichtigtuer ihre ideologischen Reviere abstecken konnten. Die einzige Spielregel war: nichts Persönliches. Auch Max Aub gibt sich übrigens kurz die Ehre, am 10. 3. 1938, um von einem Film zu berichten, den er mit André Malraux drehen will.

Max Aubs Sprache ist ein Überbietungsspanisch, das auch für Spanier reichlich fremd klingt, voller Anspielungen und seltener Ausdrücke, verkürzter Wortspiele und ineinander verschachtelter Sprichwörter, jüdischen Witzes und französischer Syntax. Albrecht Buschmann und Stefanie Gerhold sind mit ihrer interpretierenden Übersetzung zu einem eleganten Ergebnis gekommen. Über ihre Arbeit berichten sie in der Juli-Ausgabe der Literaturzeitschrift Die Horen, die sich in einem Schwerpunkt mit Leben und Werk Max Aubs beschäftigen wird.

Der Eichborn-Verlag hat sich mit der Herausgabe des „Magischen Labyrinths“ einer längst überfälligen Herausforderung angenommen. Er hat es in einer Art und Weise getan, die vermuten lässt, dass es eine Herzensangelegenheit gewesen sein muss. Herausgeberin Mercedes Fuentes hat jedem Roman einen ausführlichen Anhang beigegeben, der die wichtigsten Anspielungen, Abkürzungen und Namen erläutert. Wem das nicht reicht, kann sich vom Verlag eine ausführliche Zeittafel kostenlos zuschicken lassen. Solange die spanische Neuausgabe der Fundación Max Aub in Segorbe noch im Werden ist, kann die Edition bei Eichborn jedenfalls von sich behaupten, die momentan beste Ausgabe weltweit zu sein. Die Zaghaften mögen erst mal mit einem einzelnen Band beginnen, doch wer sich mehr zutraut, wird mit einer einzigartigen Lektüre-Erfahrung belohnt werden.

Schließlich sind da noch, auf dem Höhepunkt der „Bitteren Mandeln“, jene „Blauen Seiten“, in denen sich der Erzähler plötzlich direkt an seinen Leser wendet – eine ungeheuer eindringliche Passage, die ihre ganze Wucht aber nur dann entfaltet, wenn man den gesamten Zyklus bis dahin bewältigt hat. „Jedes Leben, jeder Roman müsste mitten im Satz enden – weil es so ist –, selbst wenn alle Figuren ihr Testament gemacht haben. Aber die Bücher haben einen Schluss, weil sie einen Schluss haben müssen, sie können nicht endlos weitergehen, auch wenn das in diesem Fall so sein müsste.“

Max Aub: „Das Magische Labyrinth“, Hrsg. von Mercedes Fuentes. Aus dem Spanischen von Albrecht Buschmann und Stefanie Gerhold. Eichborn Berlin 2003, ca. 3.000 S., im Schuber, 149,90 €. Alle Bände sind auch einzeln erhältlich. Als Taschenbuchausgabe erscheinen sie im Piper-Verlag.