: Der Krimi aus dem Kreml
von KLAUS-HELGE DONATH
Die Rote Armee nahm Berlin im Mai 1945, den Sieg über Deutschland errang die Sowjetunion indes am 17. Juni 1953. Erst an diesem Tag wurde die Teilung Deutschlands besiegelt und die DDR als deutscher Teilstaat in die Strategie der UdSSR integriert. Die Niederschlagung des Aufstands war aber kein Triumph – im Gegensatz zu 1945. Vielmehr zeigten die Ereignisse: Weder Moskau noch seine Abgesandten in Berlin hatten die Lage in der DDR richtig eingeschätzt.
Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft im Westen glaubt ein Teil der russischen Zunft, die sowjetische Führung hätte bis zum Arbeiteraufstand in Ostberlin die deutsche Frage nicht endgültig beantwortet. Alexei Filitow von der Russischen Akademie der Wissenschaften wagt gar einen Vergleich zwischen dem 17. Juni und dem Attentat auf Russlands Zaren Alexander II. 1881, der dem Land eine Verfassung geben wollte und deshalb einem Attentat radikaler anarchistischer Kräfte zum Opfer fiel. Das reaktionäre Regime seines Nachfolgers Alexander III. bereitete der Revolution statt der Konstitution den Boden. In Analogie dazu hält es Filitow für wahrscheinlich, dass Ausschreitungen und Massendemonstrationen am 17. Juni Moskau erst veranlassten, der Regierung Walter Ulbrichts mit Panzern zur Hilfe zu eilen. Ansonsten hätte die östliche Siegermacht ihr Gesicht verloren.
Die Haltung der politischen Führung in Moskau gegenüber den Ostberliner Genossen war angespannt, nachdem die Sowjets darauf bestanden hatten, statt der Ulbrichtschen Beschleunigung des Sozialismus durch forcierte Kollektivierung einen liberalen „Neuen Kurs“ zu fahren, der auf Integration der potenziellen Republikflüchtlinge setzte. Nicht die Arbeiter in Berlin hätten zuerst den Streik erklärt, sondern Walter Ulbricht und im Gefolge der Apparat des SED-Zentralkomitees wären dafür verantwortlich gewesen. Das geht aus einem Rechenschaftsbericht hervor, den der damalige Hohe Kommissar der UdSSR, Wladimir Semjonow, am 24. Juni nach Moskau kabelte. In der Politbüro-Sitzung der SED am 16. Juni hätte Ulbricht offen von einer Vertrauenskrise in der Partei gesprochen. Das ZK wisse nicht, wie es sich verhalten solle. Gegenüber dem Hohen Kommissar erklärte Ulbricht sogar, er lege die Leitung des Zentralkomitees nieder. Neuen Anweisungen werde er nicht folgen, sondern vier Wochen warten, bis sich die sowjetischen Genossen davon überzeugt hätten, dass seine Methoden besser seien. Semjonow soll ihm geantwortet haben: In vier Wochen gibt es die DDR vielleicht nicht mehr. Ziemlich launisch sei der Generalsekretär gewesen, wie es einem Parteiführer eigentlich nicht gezieme.
Launisch hin oder her, Ulbricht sollte Recht behalten. Seine Politik heizte die instabile Lage zusätzlich an, er zwang die Sowjets zum Eingreifen und sicherte somit letztendlich seine Macht.
Dass es in der DDR nicht zum Besten stand, war in Moskau bereits bekannt, obwohl seine Vertreter vor Ort – unter ihnen der Leiter der diplomatischen Mission Ilitschew – den Vorgesetzten ein rosiges Bild der wirtschaftlichen Lage im ersten Quartal 1953 gemalt hatten. Sie wollten aus der DDR ein „Schaufenster des Sozialismus“ machen.
Als Beweis für die Unentschlossenheit der Sowjetführung, was weiter mit Deutschland geschehen solle, zieht der Historiker Alexei Filitow ein Manuskript des Vorsitzenden des Ministerrates, Georgi Malenkow, heran, ein Zögling Stalins. Die Quelle ist auch westlichen Historikern bekannt. Filitow wies nach, dass Datum und Anlass der Rede im Westen nicht richtig eingeordnet worden waren. Dort hielt man es für ein Manuskript, das Malenkow zum Parteiplenum im April vorbereitet hatte – das dann aber nicht tagte. Filitow fand heraus: Die Rede war für die ostdeutschen Genossen bestimmt, die am 2. Juni nach Moskau zitiert worden waren, wo ihnen angesichts der Republikflucht ein liberalerer „Neuer Kurs“ verordnet wurde.
In welchem Kontext die Aussagen fielen, ob sie für eine schließlich ausgefallene Parteiveranstaltung gedacht oder an die deutschen Genossen gerichtet waren – das sei erheblich, meint der Historiker. Nunmehr könne man davon ausgehen, dass der Inhalt einen Konsens der politischen Führung widerspiegelte, zumindest wurde dagegen nicht offen opponiert. Und was der Ministerratsvorsitzende den SEDlern ins Stammbuch schrieb, war starker Tobak. Vom Aufbau des Sozialismus in der DDR könne keine Rede sein, Ulbrichts Weg führe direkt in die Katastrophe. Eine Wiedervereinigung Deutschlands sei nicht durch die Errichtung einer Diktatur des Proletariats zu erreichen, sondern „allein auf der Grundlage der Umwandlung Deutschlands in einen bürgerlich-demokratischen Staat“. Wolle man eine Verschärfung des Ost-West-Konfliktes zudem verhindern, müssten die Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung Deutschlands so schnell wie möglich geschaffen werden.
Und das war nur durch eine Absage an den Sozialismus zu erreichen. Für die DDR-Führung hätte dies eine Niederlage bedeutet und wäre einem politischen Todesurteil gleichgekommen. Denn bei freien gesamtdeutschen Wahlen wäre sie sang- und klanglos untergegangen. Also hintertrieb die DDR-Führung die Umsetzung des neuen Moskauer Kurses.
In den Sitzungsprotokollen vom 2. Juni und des Ministerrates vom 29. Mai wurden die Passagen zur Lage der DDR bewusst nicht aufgenommen, behauptet der spätere KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow in seinen Memoiren. Laut Filitow hatte das zur Folge, dass das Augenmerk hauptsächlich auf Aussagen zur Deutschlandpolitik auf dem Juli-Plenum der KPdSU gerichtet wurde. Die fünftägige Sitzung war dem „Fall Berija“ gewidmet, Stalins blutrünstigem Sicherheitschef, den die Parteielite schließlich kaltstellte. Nach den Ereignissen des 17. Juni und vor dem Hintergrund des innenpolitischen Machtkampfs hatte sich die sowjetische Position diametral verändert. Nun wurde Berija nicht nur vorgeworfen, ein englischer Agent zu sein, sondern auch die Wiedervereinigung Deutschlands als „bürgerlicher, friedliebender Nation“ und die Preisgabe der DDR als eines eigenständigen sozialistischen Staates betrieben zu haben. Berijas Sturz rettete Ulbricht vor dem Rücktritt.
Das ändert aber nichts an der historischen Gemengelage, die nach dem Tode Stalins im März 1953 die Lösung der deutschen Frage und eine Verständigung zwischen Ost und West näher als je zuvor rücken ließ. Erst die drohende Niederlage der Sowjetunion am 17. Juni schob dem endgültig einen Riegel vor. Die Gewinner waren die Hardliner um Walter Ulbricht und die USA, die fürchten mussten, die Bundesrepublik könnte sich nicht für Wiederbewaffnung und Nato, sondern Wiedervereinigung und Neutralität entscheiden. Seit 1952 versuchte Moskau mit der Stalin-Note den Westen zu ködern – mit Wiedervereinigung, Neutralität, Bildung einer gesamtdeutschen Regierung und gesamtdeutschen Wahlen. Dort wurden die Vorstöße des Kreml aber nur als taktische Manöver gewertet, die sie womöglich auch waren. Die Verunsicherung der UdSSR, der Kampf der Diadochen nach Stalins Tod, hatte unterdessen für einen kurzen Augenblick die Chance aufgetan, der Geschichte einen anderen Dreh zu geben.