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Archiv-Artikel

„Was geht da vor?“

„Die Straßen sind leer. Am Potsdamer Platz biwakieren Sowjetsoldaten“

In den Abendstunden des 15. Juni erfuhr die Nachrichtenredaktion des Rias erstmals von Arbeitern aus der Stalinallee, dass es auf mehreren Baustellen zu Proteststreiks gegen die von der Regierung angeordnete Normenerhöhung gekommen sei. Rias brachte diese Meldung am 15. Juni um 19.30 Uhr das erste Mal:

„In Ostberlin kam es heute auf drei Baustellen des volkseigenen Betriebes Industrie-Bau zu Proteststreiks gegen die von der Regierung angeordnete Normenerhöhung um zehn Prozent. (…) In Protestresolutionen an die Zonenregierung wurde die Zurückziehung der Anordnung über die Erhöhung der Normen gefordert.“

Um 13.30 Uhr berichtete der Rias über erneute Demonstrationen in der Stalinallee:

„Bereits gestern war es auf mehreren Baustellen dieses Betriebes zu Proteststreiks gekommen. Das Ausmaß der heutigen Protestaktionen ist zur Stunde noch nicht abzusehen.“

Drei Stunden später, um 16.30 Uhr, war Rias als erster deutscher Sender in der Lage, ausführliche Informationen über die Demonstrationen im sowjetischen Sektor zu senden:

„Sie zogen über den Lustgarten, die Linden entlang zum so genannten Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Der Platz vor dem Regierungsgebäude war bald mit einer dichten Menschenmenge gefüllt, die in lauten Sprechchören rief: ‚Wir fordern höhere Löhne und niedrigere Preise, wir verlangen die Beseitigung der Normen! Weg mit der Regierung! Wir wollen freie Wahlen!‘ (…) ‚Wir sind nicht nur gegen die Normen in der Stalinallee, wir sind gegen die Normen in ganz Deutschland. Wir wollen freie Wahlen. Wir sind ganz Berlin!“

Um ihre Forderungen zu verbreiten, suchten am selben Tag noch Arbeiter das Rias-Sendezentrum in Westberlin auf. Sie fordern:

„Erstens: Auszahlung der Löhne nach den alten Normen schon bei der nächsten Lohnzahlung; zweitens: sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten; drittens: freie und geheime Wahlen; viertens: keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher.“

Am 16. Juni um 19.45 Uhr brachte Rias einen Bericht über den weiteren Verlauf der Demonstrationen:

„Aus den 80 waren 1.500 Arbeiter geworden. Sie marschierten Richtung Alexanderplatz. Ecke Fruchtstraße stellte sich ihnen ein Kripobeamter in den Weg. Zeigte seine Marke vor. Die wurde ihm aus der Hand geschlagen. Er wurde hineingezogen in den Demonstrationszug. Er musste marschieren. (…) Als die Demonstration zurückmarschierte in Richtung Alexanderplatz, kamen ihnen Lautsprecherwagen der SED entgegengefahren. Sie forderten zur Ruhe und zum Auseinandergehen auf. Beide Wagen wurden gestürmt. Mit dem einen Wagen fuhren Ostberliner Arbeiter vor das Polizeipräsidium und riefen durch die Lautsprecher: ‚Wenn ihr Söhne des Volkes seid, schließt euch an!‘ “

Von 1.21 bis 1.26 Uhr folgt ein Augenzeugenbericht von den Demos am Alexanderplatz und in der Friedrichstraße:

Reporter: Also in der ganzen Stadt ist jetzt praktisch Bewegung, oder hat sich das jetzt gelegt?

Augenzeuge: Ja, morgen wollen sie zum, also wollen sie noch mal, und zwar haben sie sich vereinigt mit anderen Betrieben, na, der Kleinindustrie usw.

Redakteur: Haben Sie das Gefühl, dass es also wirklich zum Streik kommen wird, dass die Beteiligung –

Augenzeuge: Ja, es war eine große Demonstration auf dem Alexanderplatz vorher schon, bevor es losging mit dem Zug, und da waren Aufklärer gekommen von der Partei und wollten wieder so – na, also, einschüchtern und sagen, es kommt noch alles, es wird und, aber die Leute ließen sich nicht stören. Die S-Bahn haben sie – innen in den Bahnhofshallen haben sie alle roten Fahnen heruntergerissen, haben Posten aufgestellt, dass keiner auf die S-Bahn raufkam und runter.

Reporter: Haben Sie irgendjemanden von der Regierung gesehen, also offizielle Leute, die irgendwo mal aufgetaucht waren?

Augenzeuge: Keinen, keinen. Auch wenig Parteimitglieder und – bis hier vorne – und Polizei, es kam keine Polizei, wie sie die HO-Schaufenster zerschmissen haben. Gar nichts. Die konnten nichts machen. Heute Mittag war es schon so gewesen im Präsidium, da haben sie das Präsidium belagert, und da kam keiner raus und rein.

Reporter: Was ging eigentlich im Friedrichstadt-Palast vor, haben Sie da etwas miterlebt?

Augenzeuge: Nein, ich weiß nicht, da war eine Tagung, eine Tagung der FDJ oder SED, jedenfalls kamen sehr viel Blauhemden und SED-Leute marschiert mit Transparenten und so, und daraufhin ging dann die Schlägerei los. Hier an der Ecke.

Am 17. Juni um 8.00 Uhr sind bereits 15.000 Menschen vor dem Regierungsgebäude in der Leipziger Straße versammelt. Um 11.00 Uhr ruht der S-Bahn-Verkehr. Die rote Flagge wird vom Brandenburger Tor geholt.

Um 16.00 Uhr wird der Alexanderplatz von sowjetischen Panzern abgeriegelt.

Um 17.30 Uhr: Der Sektorenübergang am Brandenburger Tor ist abgeriegelt. Die Sowjets bringen Panzerabwehrkanonen in Stellung. Schüsse hallen durch Berlin. Aber die Demonstranten sind noch überall in Bewegung.

Um 21.00 Uhr, die Ausgeh- und Verkehrssperre gilt längst für ganz Ostberlin, meldet der Rias:

„Die Straßen sind leer. Vereinzelt fallen Schüsse. Am Potsdamer Platz biwakieren Sowjetsoldaten.“

Am 18. Juni um 14.31 Uhr wendet sich der Rias wieder an seine Hörer in Ostberlin und in der Sowjetzone:

„Verehrte Hörer in Ostberlin und in der Zone, eine Warnung: Wir wissen, dass zahlreiche Ulbricht-Leute der SED in Werkkleidungen, Maureranzüge und Arbeitsanzüge gesteckt wurden und die Anweisung erhielten, in den Betrieben, in Kantinen und auf den Baustellen mit den Arbeitern zu sprechen und zu diskutieren. Seht euch bei jedem Gespräch euren Partner genau an!“