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Archiv-Artikel

„Vertrauen abgestürzt“

Der Bielefelder Soziologe Heitmeyer forscht über die Gewaltbereitschaft der vermeintlich Kriminellsten: Jugendliche Spätaussiedler

In der Öffentlichkeit gelten jugendliche Aussiedler als besonders gewalttätig.

Heitmeyer: Das stimmt so nicht. Zumindest kommt bei den direkten Befragungen der Jugendlichen heraus, dass sie genauso gewaltbereit sind wie ihre deutschen Altersgenossen. Um das Bild zu ergänzen, muss man zwar auch die Polizeiberichte miteinbeziehen. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass die Polizei eine Tatverdächtigen-Statistik und keine Verurteiltenzahlen herausgibt. Es gibt eine kleine Anzahl von Intensivtätern, die immer wieder auffällig werden. Aussiedlerjugendliche sind in Gruppen gewaltbereiter, vor allem wenn diese ihre einzige Anerkennungs-Quelle ist.

Ist das nicht ein Phänomen, dass bei allen männlichen Jugendlichen zu erkennen ist?

Natürlich leiden auch die deutschen Altersgenossen unter Gruppendruck. Doch auf Russlanddeutschen lastet ein noch höherer Druck: Sie haben oft kaum Außenkontakt und verspüren eine hohe Ablehnung durch die Außenwelt. Das ist auch dem Umstand zu verdanken, dass sie oft am Rande von Kleinstädten angesiedelt werden. Außerdem sind Aussiedlerkinder oft in einer autoritären Umgebung aufgewachsen. Die Polizei berichtet, dass sie erst dann von den Jugendlichen verstanden werden, wenn sie rabiat vorgeht.

Der Bochumer Polizeipräsident Thomas Wenner und NRW-SPD-Generalsekretär Michael Groschek führen die Gewaltbereitschaft der Aussiedler auf die misslungene Integrationspolitik von Helmut Kohl zurück.

Das halte ich für einen zu direkten Kurzschluss. Aber es ist tatsächlich so, dass die Integrationsprobleme hoffnungslos unterschätzt wurden. Ich bin sehr skeptisch, was die Zukunft angeht. Es brechen massenweise Jobs für niedrig Qualifizierte weg und die Sprachkenntnisse sind bei Aussiedlern durchschnittlich noch schlechter als bei jugendlichen Migranten.

Warum wird dann nicht in die Sprachförderung investiert?

Die Sprachförderung für Aussiedler wurde in den vergangenen Jahren wegen der allgemeinen Haushaltslage drastisch zurückgefahren. Für die Integration ist sie jedoch von immenser Bedeutung. Und schulischer Erfolg ist neben der familiären Liebe die wichtigste Anerkennungs-Quelle. Wenn diese versiegt, werden Anerkennungs-Defizite und Minderwertigkeitskomplexe durch ein kollektives Überlegenheitsgefühl, häufig mit Gewalt, kompensiert.

Haben Migrantenkinder nicht die selben Probleme?

Solange sie den gleichen Qualifikationsweg gehen, ist die Chance von Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf beruflichen Erfolg nicht besser. Durch die große türkische Community in Deutschland haben sie jedoch mehr Möglichkeiten, in der so genannten eigenethnischen Wirtschaft – dann zum Beispiel in der Gastronomie – unter zu kommen. Ihre Aufstiegschancen sind gering, aber sie haben dann oft zumindest einen Arbeitsplatz.

Stellen Unternehmen bei gleicher Qualifikation lieber den deutschen als den Aussiedlerjugendlichen ein?

Strukturelle Diskriminierung lässt sich schwer beweisen. Aber die Russlanddeutschen empfindet sich zumindest als benachteiligt. Das zeigt eine Langzeit-Befragung der Jugendlichen. Sowohl bei den Migranten als auch bei den Aussiedlern stürzte zwischen 2001 und 2003 das Vertrauen in ihre Chancen in der deutschen Gesellschaft dramatisch ab.