: „Ich bin kein Pessimist“
Der Bremer Marx-Forscher Karl-Heinz Roth über die Marx-Begeisterung nach der Bankenkrise, die Manager der bremischen Hafenwirtschaft und Perspektiven sozialistischer Organisierung
INTERVIEW: CHRISTIAN JAKOB
Herr Roth, seit vielen Jahren sprechen Sie über Marx. Nun haben sich bei Ihrem Vortrag Anfang Dezember in der Villa Ichon die ZuhörerInnen bis ins Treppenhaus gedrängt. Ist das neu?
Karl-Heinz Roth: Ja. Wir stehen vor einem Epochenbruch. Es droht eine massive Weltwirtschaftskrise. Die programmatische Konstruktion der letzten 35 Jahre – Marktradikalismus, Leistungswillen und die Unterordnung unter ein Regime strategischer Unterbeschäftigung – ist gründlich gescheitert.
Und deshalb fangen die Leute an, sich für Marx zu interessieren?
Das ängstigt die Menschen ganz extrem. Die Unterschicht gerät in Panik, die Mittelschicht gerät in die Krise.
Der Marktradikalismus selber war doch schon für viele Menschen mit Verunsicherung besetzt. Seine Krise löst nun die große Panik aus?
Ja, denn er hat den Alltag auch großer Teile der Unterschicht bestimmt. Es gab eine unglaubliche Expansion der Konsumentenkredite, die Masseneinkommen sind in den letzten Jahren radikal gesunken – auch in der Unterschicht. Millionen Menschen haben ihre prekäre Lage durch Kredite verdrängt und sitzen nun in der Falle. Die Unterklassen der entwickelten Welt kompensierten ihre Prekarität durch Verschuldung. Das spielt auch in der Alltagskultur eine gewaltige Rolle.
Inwiefern?
Das alte Sozialstaatsmodell ist gescheitert. Seine Wiederherstellung ist genauso in Frage gestellt wie der Marktradikalismus. Das sind Prozesse unheimlicher Dynamik. Alle bemerken: So geht es nicht weiter! In Italien führen die Bildungsreformen der Berlusconi-Regierung seit Monaten zu Massenaufständen. Die Jugendlichen sagen: Wir zahlen eure Krise nicht. In Griechenland gab es eine extrem weit fortgeschrittene Erwerbslosigkeit, dort existieren heute keine Perspektiven nach dem Studium. Das sind neue existenzielle Bedrohungen, die dort zu einer ganz breiten Sozialrevolte geführt haben. Altlinke aus den 1960er und 1970er Jahren …
… wie Sie …
… füllen in europäischen Universitäten wieder Auditorien mit über tausend ZuhörerInnen. Und auch in Deutschland ist dieser Prozess zu beobachten.
So? Wo denn?
Etwa bei der Besetzung des insolventen Autozulieferers HWU in Schleswig-Holstein. Für die dortigen Beschäftigten wurde eine – umstrittene – Transfergesellschaft gegründet.
Wie hätte eine marxistische Strategie für den Kampf um die Arbeitsplätze in diesem Betrieb ausgesehen?
Es ist unhaltbar zu glauben, Marx habe fertige Rezepte. Aber eben weil die Weltwirtschaftskrise voll in Gang gekommen ist, wird Marx für solche Auseinandersetzungen immer interessanter. Seine ökonomische Analyse ist derart profund, dass selbst Manager sie wahrnehmen, um Ausmaß und Folgen der Krise überblicken zu können. Es ist dennoch nicht möglich von ihm konkrete Handlungsanleitungen zu bekommen.
Warum nicht?
Sein Konzept entstand in der Konfrontation mit den Entwicklungsperspektiven des 19. Jahrhunderts. Ganz entscheidende Probleme lassen sich deshalb nicht mit ihm angehen, etwa ökologische Fragen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die chemische Industrie damals erst ganz langsam in Fahrt kam. Die Marx’sche Theorie ist für eine Analyse der derzeitigen Verhältnisse eher ein Steinbruch, ein Torso.
Viele Marxisten sehen das anders.
Marx ist von ihnen als Ikone missbraucht worde, er hat entscheidende Lücken und wird immer nur als Vulgärform vermittelt. Der Staatssozialismus hat Marx 100 Jahre lang blockiert.
Etwas genauer, bitte.
Seine Dominanz hat lange verhindert, dass Schwächen des Marxismus – wie auch des Staatssozialismus – auf breiter Front erkannt und fundamentale Kritik daran geübt wird. Dissidente Strömungen, wie etwa die Operaisten in Italien, die dies dennoch versuchen, haben deshalb nie eine große Rolle gespielt. Dabei sind diese dissidenten Strömungen Marx viel näher als der Staatssozialismus. Die marxistische Orthodoxie war zu lange relevant. Diese Zeiten sind nun vorbei, eine orthodoxe Revitalisierung wird scheitern. Es wird in diesem Sinne keinen Marxismus mehr geben.
Sie werden dem, was Sie „dissidente Strömungen“ nennen, zugerechnet. Was sind denn Ihre Rezepte?
Wir müssen die Krise analysieren und über aktuelle Teilaktivitäten hinaus eine konkrete Utopie formulieren. Das ist ein ungeheurer Anspruch, aber nur so wird man der epochalen Bedeutung der neuen Situation gerecht.
Können Sie das konkretisieren?
Bremerhaven etwa wird massive Problem bekommen. Als Folge der Wirtschaftskrise brechen seit dem Spätsommer weltweit die Frachtraten im Schiffsverkehr ein. Es gibt deshalb in Bremerhaven – wie auch anderswo – eine ungeheure Überakkumulation an Transportkapazität. Und es ist klar, dass deswegen alles abstürzen wird. Hier müsen wir Prozesse in Gang bringen, die die Privatisierung stoppen und die Wiederaneignung der Anlagen und der Infrastruktur auf die Tagesordnung setzen.
Wie soll das gehen?
Gefragt ist ein alternatives Restrukturierungsmodell für die Hafenindustrie. Die Arbeiter sollten sich selber organisieren und müssen dabei über das Klein-Klein der gewerkschaftlichen Betriebsgruppen hinausgehen. Mit ihnen werden neue Modelle zu entwickeln sein, die das katastrophale Scheitern der Managerklasse mit der Entlassung und Abschaffung der Managerklasse beantworten. Das steht an. Das ist sicher sehr weitgehend, aber so muss die konkrete Utopie aussehen, die es zu entwickeln gilt.
Die BLG ist rund eine Milliarde Euro wert, profitabel und gehört dem Land Bremen. Warum sollte dieses eine solche Form von Selbstverwaltung tolerieren?
Der Weg führt über die Arbeiter. Zu ihnen müssen wir mit unseren Konzepten gehen. Die Perspektive für sie muss lauten: Radikale Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Nur so können Massenbedürfnisse befriedigt und kann die für die gesellschaftliche Selbstverwaltung erforderliche Nicht-Arbeitszeit erobert werden.
Sie sind ganz schön optimistisch.
Ich bin kein Pessimist.
Fotohinweis:Karl-Heinz Roth, 66, ist Mediziner, Historiker und Sozialforscher. Er leitet die Bremer „Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“.