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Archiv-Artikel

Strukturell immer offen

Popliteratur ist tot, nun liegt sie auf den literaturwissenschaftlichen Seziertischen: Der Fachbereich Germanistik der Uni Heidelberg widmete in diesem Jahr seine Poetikdozentur der Popliteratur

von CHRISTIANE ZSCHIRNT

Pop. Das war vor zwanzig Jahren noch das schreckliche Kind des Literaturbetriebs und bedeutete zum Beispiel: Rainald Goetz ritzt sich vor der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises die Stirn mit einer Rasierklinge auf und erklärt, während das Blut aufs Manuskript tropft, die Literatur müsse bluten, um zu existieren. Pop entstammte dem Impuls, die Literatur aus den privilegierten Institutionen zu lösen: von den elitären Ansprüchen der germanistischen Seminare und den autoritativen Debatten der Feuilletons.

In den Neunzigerjahren aber verwandelte sich das subversive Potenzial des Pop auf eine Weise, die es so gut wie unsichtbar machte. Die Popliteratur feierte die Oberflächen: den Geschmack, den Lifestyle, den Trend, das Triviale, die Show. PopautorInnen konstatierten entspannt die Grenzauflösung zwischen Kunst und Geld. Klaglos, fröhlich und vollkommen undramatisch unterzogen sie das Oberflächliche ihren mikroskopischen Blicken. Machten sichtbar, wie eine Kultur ohne Tiefgang von nahem aussieht. Und wussten natürlich um die Faszination dieser fast unmöglichen Perspektive beim Publikum zwischen zwanzig und dreißig.

Nachdem die Popliteratur in den späten Neunzigerjahren landauf, landab und in den Feuilletons gefeiert worden war, hat es in letzter Zeit einen ordentlichen Backlash gegeben: Die Popliteratur liegt im Gefolge des 11. 9., einer neuen Ernsthaftigkeit und der aktuellen wirtschaflichen Depression erschöpft danieder, und der Popjournalismus gleich mit. Kaum ein Verlag, der von der Popliteratur noch was wissen will, geschweige denn ein Buch als Popbuch bewirbt, kaum ein bürgerliches Feuilleton, das die Popliteratur nicht mindestens einmal zu Grabe getragen hat. Umso erstaunlicher, dass Pop inzwischen mehr und mehr zu akademischen Ehren kommt und sich die Literaturwissenschaft ihrer annimmt – vielerorts in Form von Seminaren, aber auch durch engagierte und Bücher veröffentlichende Popgelehrte wie Moritz Baßler, Jochen Bonz oder Eckhard Schumacher. Auch das Germanistische Seminar der Universität Heidelberg, der man nicht gerade mangelndes Bewusstsein für Traditionen nachsagen kann, mochte da nicht hintanstehen und hat in diesem Jahr seine Poetikdozentur der Popliteratur gewidmet. Zum zehnjährigen Jubiläum feierte man zwei Wochen lang den „Sound des Jetzt: Pop und Literatur“.

Nachdem 1993 die erste Heidelberger Poetikdozentur an Martin Walser gegangen war und in den folgenden Jahren weitere literarische Schwergewichte folgten (u. a. Ulla Hahn, Dieter Kühn und Brigitte Kronauer) läutete man in diesem Jahr also einen Generationenwechsel ein und holte eine Versammlung von PopautorInnen an die älteste Universität Deutschlands. Entsprechend bunt fiel das Programm aus: sechs Veranstaltungen, vom akademischem Vortrag bis zu einer Lesung mit anschließender Party. Auf dieser legten – fast schon obligat! – die Autoren Andreas Neumeister und Thomas Meinecke bis in die Morgenstunden Platten auf und zeigten, dass man Popliteratur ohne Popmusik (in diesem Fall eher Techno) gar nicht denken kann.

Den Auftakt der Popdozentur gab eine Lesung mit Alexa Hennig von Lange. Ihre Prosa galt den VeranstalterInnen als beispielhaft für Popliteratur: Niemand habe zuvor Jugendsprache so gekonnt literarisch verdichtet. Eine Podiumsdiskussion über die literarischen Qualitäten der Popliteratur stellte die Frage: „Zwischen Knabenwindelprosa und Avantgarde?“ Neue Erkenntnisse gab es keine, und der Mangel an Überraschungen zeigte vielleicht am deutlichsten, dass Pop längst Alltag ist. Dies bringt die Popliteratur jetzt auch in die germanistischen Seminare – oder, wie Ulrich Rüdenauer im Programmheft zitiert wird, „auf den literaturwissenschaftlichen Seziertisch“.

Nun ist allerdings das, was gewöhnlich auf Seziertischen liegt, nicht mehr allzu lebendig. Zuckt die Popliteratur noch? Helmuth Kiesel, Germanistikprofessor in Heidelberg und einer der Veranstalter, sagt, nur weil die Popliteratur längst etabliert ist, bedeute dies noch lange nicht, dass sie nicht mehr kreativ sei. Er hat Recht. Denn auf einer Lesung präsentierte Elke Naters, gemeinsam mit ihrem Freund und Koautor Sven Lager, unveröffentlichte Momentaufnahmen über das Leben mit Kindern. Der Alltag von Popeltern mit ihren Popkindern birgt allerhand sprachliches Neuland: „Kann ich?“, sagen die Kinder andauernd wie alle Kinder und tun so, als sei das schon ein ganzer Satz.

Zum Abschluss der Veranstaltung ging es dann noch einmal richtig akademisch zu. Im Germanistischen Seminar der Universität, zu Füßen der Ruinen des Heidelberger Schlosses, hielt der Kölner Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher einen brillanten Vortrag über den Pop und das Jetzt. Schumacher hob das Thema Popliteratur auf eine wohltuend analytische Ebene und gab einen Vorgeschmack darauf, welchen Gewinn der Einzug in die germanistischen Seminare für die Möglichkeiten, intelligent über Popliteratur zu sprechen, im Idealfall bedeutet. Das Entscheidende des Pop, erklärte Schumacher am Beispiel von Rainald Goetz, sei gar nicht das ständig beschworene Erzählen von den Befindlichkeiten einer Generation, sondern der Bezug des Pop zur Zeit: Pop betreibe in der Gegenwart Grundlagenforschung der Gegenwart. Nicht um die Gegenwart zu verstehen, sondern um sie zu zitieren, zu montieren und zu archivieren. Und damit sei Pop in Wirklichkeit nicht die Vereinbarungsliteratur, unter der sie das Feuilleton gewöhnlich verhandle, sondern eher wie eine Versuchsanordnung, strukturell immer offen.

So werden denn nun die GermanistInnen den Pop unter die Lupe nehmen. Die Popliteratur wird es überleben, nicht zuletzt, weil sie ihren eigenen Bezug zur Zeit immer schon mitreflektiert. Das kann man von der Germanistik nicht immer sagen. Aber das wird sich ändern, zumindest wenn es mehr Veranstaltungen wie die in Heidelberg gibt.