: berliner szenen Muskelschwund
Leider, leider
Die Patientin aus dem Wedding hat die Symptome des Muskelschwunds (MS). Es geht ihr rapide schlechter. Eventuell ist es aber auch gar nicht MS. Die Ärzte sind jedenfalls ratlos. Manchmal kann sie plötzlich nicht mehr schlucken. Sie hat große Schmerzen. Ständiger extremer Schwindel verursacht ihr Schlaflosigkeit. Die Leber ist aufgrund einer früheren medikamentösen Behandlung entzündet. Die Einnahme klassischer Mittel zur Bekämpfung von MS ist ihr daher verwehrt. Wenn es ihr besser geht, sitzt sie im Rollstuhl und schaut aus dem Fenster auf die trostlose Straße. Dann bekommt sie wieder Angst, ersticken zu müssen. Alle paar Tage muss sie in die Charité.
Hier unterzieht man sie den verschiedensten Experimenten, um endlich Klarheit über ihre rätselhafte Krankheit zu gewinnen. Die Ärzte reden ihr ein, eine Punktierung der Leber könne Aufschluss geben. Sie weigert sich zunächst. Sie fürchtet unnötige Qualen, neue Schmerzen. Doch dann lässt sie sich in ihrer Verzweiflung überreden. Der Arzt – nicht einmal unerfahren – betäubt sie lokal. Leider versäumt er es, das Einsetzen der Anästhesie abzuwarten, bevor er ihr abrupt eine Art Stricknadel durch die Bauchdecke stößt. Außerdem trifft er die Leber nicht. „Wahrscheinlich war es das Zwerchfell!“, vermuten die Mediziner danach.
Mit extremen Bauchschmerzen liegt die Patientin auf der Station. Ihre Krankenakte ist plötzlich unauffindbar. Als sie die Mediziner daran erinnert, dass sie selbst einmal hier in der Charité gearbeitet habe, ist die Akte plötzlich wieder da. Die Ärzte teilen ihr derweil schon einmal achselzuckend mit, die Leberpunktierung müsse man jetzt „leider noch einmal machen.“ Alltag in der Charité. JAN SÜSELBECK