Im Stundenhotel

Als eine Ehe noch eine Ehe war und Seitensprünge nicht öffentlich in den bunten Blättern diskutiert wurden: Martin Kusej inszeniert Georges Feydeaus „Floh im Ohr“ im Hamburger Thalia Theater

VON SIMONE KAEMPF

Slapstick, Lakonie, Satire, alles ist da. Komisch geht es im Theater schon seit Jahren zu, selbst dort, wo mit sozialrealistischer Drastik oder umspannender Realitätserforschung alles andere als Unterhaltungstheater produziert wird. Aber die Komödie, gar die Boulevardkomödie, hat man tatsächlich nicht mehr auf der Rechnung: zu viel Geruch von abgeschmackten Ehebruchsdramen, peinlichen Eifersuchtsszenen und zugeschlagenen Türen, die außerhalb des Boulevardtheaters als unangenehmes Betriebsgeräusch Naserümpfen erzeugen.

Georges Feydeau ist darüber in Vergessenheit geraten, und wenn er plötzlich wieder auf dem Spielplan steht, weckt das Skepsis, in welchem Geist das Modell sich überschneidender Liebesbeziehungen wohl belebt werden soll. Doch „Floh im Ohr“ ist ein Referenzstück, eine von Feydeaus ausgetüftelsten Arbeiten. Betrachtet man es genauer, lässt sich, was Präzision, Genauigkeit und Textmechanik betrifft, kaum ein größerer Kontrast zu zeitgemäßen Komödien feststellen. In der schnurrenden Mechanik hat man in einem ähnlichen Stück Feydeaus mehr als 200 präzise getimte Auf- und Abtritte ausgezählt. Und, den Inhalt beiseite geschoben, dahinter offenbart sich eine selten gewordene Qualität: Geschwindigkeit und Rhythmus provoziert allein der Text, ohne dass sie sich ein Regisseur woanders abschauen muss.

Diesen Monat spielt Feydeau am Thalia Theater, nächste Spielzeit folgt wohl eine Bearbeitung an der Berliner Schaubühne, und kleine Häuser haben ihn auch wieder auf dem Plan. Anfang der 70er-Jahre erlebten die Theater zuletzt eine Feydeau-Welle, die noch mithilfe von Nachthemden, Sockenhaltern und Rüschenkleidern verstaubte Konvention ausstellte. Jetzt ist der Abend von Kusej im 70er-Jahre-Ambiente, der Belle Époque unserer Tage, bestens aufgehoben: Man benimmt sich wie die Spießer, aber träumt von Seitensprüngen und freier Liebe. Das wirkt überraschend überzeugend, weil die Figuren nicht mit ihrer Distinktion, aber zumindest mit dem Outfit direkt aus den Lounges europäischer Metropolen gecastet sein könnten.

Am Beginn steht ein Treuebeweis, den Raymonde von ihrem Ehemann einfordert. Weil sie glaubt, dass er fremdgeht, lässt sie einen gefälschten Liebesbrief aufsetzen, der nach und nach 15 Figuren im klebrigen Stundenhotel aufeinander treffen lässt. Von diesem Ausflug holt sie Sigmund Freud zur Triebunterdrückung zurück: Jetzt, wo es endlich mal zur Sache gehen könnte, greift man hektisch, ängstlich, panisch, selten unfreiwillig zum Notausstiegsknopf. Eine Kluft, aus der sich Situationskomik speist und die durch die sprachlichen Zweideutigkeiten von Elfriede Jelineks Übersetzung noch verstärkt wird.

„Nehmen wir eine Tragödie und beschleunigen sie, so haben wir eine Komödie“, stellte Eugène Ionesco in seinen Schriften zum Theater fest. Kusej befolgt Ionesco, nimmt Feydeau, „als sei es eine Gebrauchsanweisung von Ikea, eine sehr komplizierte, die ich versuche lückenlos umzusetzen“, so beschreibt er es selbst. Manchmal dreht er die Schrauben langsamer, dann schneller, bis ein kleiner, abgründiger Moment wieder vom Lauf der Triebe weggekickt wird. Doch aus dem sich verselbstständigten Impuls heraus, wie man es der Komödie nachsagt, läuft nichts. Kusej lässt sich die Kontrolle nicht vom Text aus der Hand nehmen.

Das ist das Interessante des Abends, der in einer bemerkenswerten Handwerkerleistung den aktuellen Stand des Theaters konstatiert: Die Lehre von der reinen Form ist auf dem Theater dem komplizierten Spiel mit Bedeutungsebenen, Verlinkungen und Assoziationen gewichen. „Flipper“ läuft auf dem Fernsehbildschirm, aber wenn die vermeintlichen Paare dazu im Wohnzimmer sitzen, denkt man schon ein Stück weiter an Woody Allen oder an die Miefigkeit in dem Kinofilm „Der Eissturm“, als man Bereitschaft zum Partnertausch signalisiert, aber doch wieder nach dem Autoschlüssel des Ehepartner angelt.

Atmosphärisch dichte Bilder sind bei Kusej wieder garantiert. Das nachhaltigste Bild entsteht im Stillstand des Höhepunkts: Die halb nackten Figuren klammern sich im Spuk des nächtlichen Gewitters mit verzerrten Gesichtern an die Wände des Stundenhotels. Dazu läuft von den Doors „The End“. Die Wiedergeburt des Tableau Vivant aus dem Nullpunkt einer horrorartigen Zeit, als Fremdgehen zur Bürgerpflicht aufstieg, und eine schöne Beerbung der Komödie aus dem Geist, mit ihr einen Spaß zu treiben.