: Ein Kampf um zwanzig Punkte
aus Ann Arbor MICHAEL STRECK
Sie hat es bald geschafft. Noch drei Wochen muss sie für die Abschlussprüfungen lernen. Dann wird Elizabeth Kronk ihren Doktorhut haben, die Koffer packen und nach Washington ziehen. Ein Haus hinter dem Kapitolshügel hat sie bereits gekauft, den Job in einer Anwaltskanzlei in der Tasche. Ein Abschluss im „Harvard des Mittleren Westens“ gilt als Eintrittskarte für den gewünschten Beruf.
Die University of Michigan in Ann Arbor zählt zu den renommiertesten öffentlichen Hochschulen des Landes und ist stolz auf ihren hohen Anteil an Minderheiten. Von den insgesamt 23.300 Studenten sind 13 Prozent Asiaten, acht Prozent Schwarze, 4,7 Prozent Latinos und 0,8 Prozent Indianer. So wie Kronk. „In Harvard und Yale gibt es überhaupt keine Indianer“, sagt sie.
Im politisch korrekten Sprachgebrauch ist Kronk eine native American. Sie hat einen US-Pass. Doch sie versteht sich nicht als Amerikanerin. Ihre Identität ist auf eine blaue Plastikkarte gepresst, die sie als Angehörige der Chippewa-Nation ausweist. „Ich habe die USA gehasst bis zum 11. September“, sagt die Frau mit den langen schwarzen Haaren, die beim Sprechen den ganzen Körper einsetzt. Erst nach den Terroranschlägen habe sie ein positiveres Verhältnis zu dem Land entdeckt, von dem sie sagt, dass viele Weiße sich für die wahren native Americans halten. „Wir werden in Museen verstaut, und sie reden über uns, als wären wir längst verschwunden.“
Die Indianer von Michigan genießen an der University of Michigan einen besonderen Schutz. Ihnen ist ein Studienplatz garantiert, sofern die schulischen Leistungen stimmen, sagt die 25-Jährige. Der Staat Michigan habe das Gelände, auf dem er später die Universität bauen ließ, im Jahre 1879 von ihrem Stamm gekauft. Er gewährte den Nachfahren, die sich im Reservat am nördlichen Zipfel von Michigan niederließen, im Gegenzug ein freies dreijähriges Studium. Nicht nur Indianer sollen bessere Bildungschancen erhalten, die Universität versucht durch eine aktive Zulassungspolitik den Anteil von Minderheiten insgesamt zu erhöhen. Beim Auswahlverfahren wird daher die ethnische Herkunft mit berücksichtigt. Diese in den USA affirmative action genannte Politik hat jedoch nicht nur Anhänger. Im Januar reichten zwei weiße Studenten eine Klage gegen die Universität und ihre Immatrikulationspraxis vor dem Obersten Gerichtshof der USA ein (siehe Kasten). Seither ist Michigan zum Kristallisationspunkt der Debatte um die „positive Diskriminierung“ von Minderheiten geworden.
Elizabeth Kronk hat Diskriminierung – nicht „positive“ – von Kindesbeinen an erlebt. In der Highschool wurde sie die „Alkoholikerin“ genannt, da ihre weißen Mitschüler Indianer nur mit Casinos und Trunksucht in Verbindung brachten. Beim Gang durch das neugotische, mit Efeu bewachsene Gebäude der law school singt sie ein Loblied auf die Anstrengungen der Universität, die Bildungschancen für Minderheiten zu erhöhen. In den langen Gängen und Säulenhallen herrscht andächtige Ruhe. Im Lesesaal scheint die Zeit vor 150 Jahren stehen geblieben. Weiße Studenten hätten das unterschwellige Gefühl, sie verdienten es, hier zu sein, sagt sie. „Und wenn sie nicht angenommen werden, kann es nur Diskriminierung sein.“
Weiße Schüler müssten lernen, dass es viele gute Kandidaten gebe, die nicht zugelassen werden, egal welche Hautfarbe sie haben, sagt Marvin Krislov, Vizepräsident und Chefjurist der Universität. Sein Büro befindet sich in einem funktionalen, nüchternen Steinwürfel mit Blick auf ein Parkhaus. Die Behauptungen konservativer Kreise und der Kläger, mit affirmative action würden schlechtere schwarze Schüler gegenüber weißen mit besseren Noten bevorzugt, sei völlig unbegründet. Die 20 Punkte, die beim Aufnahmeverfahren im undergraduate program für die ethnische Herkunft auf einer Skala von insgesamt 150 Punkten verteilt würden, könnten schulische Leistung und andere Qualitäten nie übertrumpfen. Die Haltung der Kritiker empfindet er als Heuchelei. Faktoren, die weiße Studenten privilegieren, würden selbstverständlich befürwortet. So werden Schüler, die aus dem überwiegend weißen Michigan stammen und deren Eltern auch hier studiert haben, bevorzugt.
Krislov vertritt energisch den von der Verfassung eingeforderten Auftrag der „Vielfalt“ an US-Hochschulen. „Vielfalt ist Teil der Welt, in der wir leben, und Teil des amerikanischen Experiments“, sagt der 46-Jährige mit angriffslustiger Stimme, während er wie bei einem Plädoyer in seinem Büro auf und ab läuft. Die Frage sei, wie man diesen Auftrag umsetze. Wolle man bei 25.000 jährlichen Bewerbungen auf 5.000 freie Plätzen eine faire und logistisch praktikable Auswahl treffen, argumentiert er, sei ein standardisiertes Punktesystem die beste Lösung. „Unser System ist zudem transparent.“ Schüler, die sich in Harvard oder Yale bewerben, wo sich die Professoren bei ihren Auswahlmethoden nicht in die Karten schauen lassen, würden niemals den Grund ihrer Ablehnung erfahren.
Beide Prozesse gegen die Universität wurden von der konservativen Washingtoner Interessengruppe Center for Individual Rights angestrengt. Sie hatte monatelang gezielt gesucht und die beiden in Ann Arbor abgelehnten Schüler schließlich zur Klage überredet, um ein Grundsatzurteil gegen affirmative action zu erwirken. Krislov weiß Wirtschaftsverbände, Unternehmen, 22 Bundesstaaten und selbst das Militär hinter sich. Sie alle unterstützen die Universitätsleitung und haben beim Obersten Gericht Petitionen eingereicht. „Die Führungselite ist auf unserer Seite. Diversität ist das Anliegen aller.“
Wie auch immer das Gericht entscheidet, die Chippewa-Indianer von Michigan wird das Urteil aufgrund ihres Sonderstatus nicht betreffen. In den Genuss höherer Bildung kommen dennoch nur wenige, da die Schulen im Reservat völlig vernachlässigt sind. Dass Kronk es geschafft hat, verdanke sie vor allem dem Vorbild ihres Vaters, sagt sie. Der war 1944 aus dem Warschauer Ghetto geflohen, studierte in den USA und heiratete eine Indianerin, die er auch zum Jurastudium überredete. Die ersten Kindheitsjahre verbrachte sie in ärmlichen und von der Außenwelt fast abgeschnittenen Wohnwagensiedlungen, bevor die Eltern ins weiße Vorstadtamerika umzogen. „Das Problem für uns Indianer ist, dass positive Vorbilder und erfolgreiche Figuren fehlen“, sagt sie. Im Bild der Öffentlichkeit würden sie nur noch als Folkloregruppe existieren. Daher sei der Zugang zu Ausbildung so wichtig. Afroamerikaner hätten wenigstens prominiente Musiker, Politiker oder Schauspieler. „Ich bin oft richtig eifersüchtig auf die Schwarzen. Sie haben ihre Bürgerrechtsbewegung, und in der weißen Bevölkerung gibt es zumindest ein Bewusstsein für ihre Probleme.“
Kronk hatte sogar eine Zulassung fürs kalifornische Berkeley, wo es selbst bei Dauerregen nie so trübe ist wie im ewig flachen Michigan. Doch sie empfand die Vorstellung befremdlich, die einzige Indianerin inmitten vornehmlich weißer oder asiatischer Studenten zu sein. Auch ihre 24-jährige Mitstreiterin Michelle Lin, die in Ann Arbor die Asian Pacific Student Association vertritt, erhielt eine Zusage für die Kaderschmiede bei San Francisco. Sie hatte jedoch einfach keine Lust auf zu viele asiatische Kommilitonen – rund 30 Prozent beträgt ihr Anteil dort mittlerweile – und zog es vor, in Michigan zu bleiben. Lin ist eine kleine, quirlige Frau, deren Eltern aus Taiwan eingewandert sind. Sie ärgert sich darüber, dass affirmative action überwiegend im Raster Schwarz gegen Weiß gesehen wird und Leute fragen würden, wozu Koreaner oder Taiwanesen, die „asiatische Erfolgsstory Amerikas“, denn überhaupt solchen Schutz bräuchten. „Die Einwanderer kommen heute aus ärmeren Ländern wie den Phillippinen. Deren Aufstiegschancen sind gering.“ Anfang April hatte sie 600 Studenten zusammengetrommelt, um mit ihnen in Washington vor den Stufen des Obersten Gerichts gegen eine Änderung der bestehenden Zulassungsbestimmungen zu protestieren. „Der amerikanische Traum ist nur eine Fassade“, sagt sie. „Solange soziale und institutionelle Hürden faire Ausbildungschancen verhindern, brauchen wir Gesetze, die Minderheiten unterstützen.“
Wen man auch fragt in Ann Arbor, dieser glückseligen, vom amerikanischen Alltag abgeschiedenen Oase von rund fünf Quadratkilometern, wo es nur Cafés, Buch- und Outdoorläden gibt, alle scheinen sie diese Haltung zu teilen. Kaum jemand, der sich offen gegen affirmative action ausspricht. Manche wie Anne, 22 Jahre, weiß und aus einem kleinen Dorf am Michigansee, waren anfangs dagegen, da sie schlicht zu wenig über die Regelungen wussten und aus den Medien mit einer oft verengten Sichtweise versorgt werden. Ihre Einstellung änderte sich spätestens beim Studienbeginn. „Die Vielfalt an Leuten hier ist eine der besten Erfahrungen in meinem Leben“, sagt sie. „Wie schrecklich, wenn alle Studenten weiß wären.“