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Archiv-Artikel

Kinder kränker dank Gesundheitsreform

Kinderärzte melden: Allergiker ab zwölf nehmen notwendige Medikamente nicht mehr, seit Praxisgebühr und höhere Zuzahlungen eingeführt wurden. Impfungen nehmen dramatisch ab. Kassenärzte beschwichtigen: Vorzieheffekt wirkt noch

„Viele Kinder sind ohne Medikamente nicht mehr schulfähig“

VON ULRIKE WINKELMANN

Seit Beginn der Gesundheitsreform gab es bloß Mutmaßungen darüber, dass Praxisgebühr und Zuzahlungen nicht nur überflüssige, sondern auch notwendige Arztbesuche verhindern. Nun hat der Kinder- und Jugendärzteverband BVKJ sich als erster Verband konkret dazu geäußert, wen die Gesundheitsreform kränker macht: Jugendliche. Die standen bislang nicht im Verdacht, zu viel zum Arzt zu laufen.

„Es fällt auf, dass Allergie-Patienten über zwölf Jahren seltener kommen und sich die notwendigen Augentropfen, Nasentropfen und Antihistaminika nicht mehr verschreiben lassen“, erklärte der BVKJ-Präsident Wolfram Hartmann der taz.

Insgesamt verzeichnen die niedergelassenen Ärzte einen Rückgang der Besuche um gut zehn Prozent – auch die Kinderärzte. Die Auswertung der Zahlen des ersten Quartals 2004 ergibt im Vergleich zum ersten Quartal 2003, dass Hausärzte (9 Prozent) etwa so viel verloren haben wie Fachärzte (10,5 Prozent), wobei unter diesen die Hautärzte mit einem Verlust von bis zu 20 Prozent hervorstechen.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) vermutet jedoch, dass sich der Trend nicht halten wird. Immer noch werde der „Vorzieheffekt“ aus den letzten Wochen des Jahres 2003 abgearbeitet. „Die Leute haben die Praxen im vergangenen Jahr schier gestürmt und sich mit allen möglichen Leistungen eingedeckt“, erklärte KBV-Sprecher Roland Stahl. Für eine seriöse Bewertung des Praxisgebühr-Effekts müsse man zwei weitere Quartale abwarten.

Für Kinder bis 18 Jahren muss nun allerdings gar keine Praxisgebühr bezahlt werden. Doch diese Botschaft ist längst nicht bei allen Eltern angekommen. Nur so lässt sich etwa erklären, warum seit Jahresbeginn auch die Zahl der Impfungen um bis zu 30 Prozent zurückgegangen ist – „nicht nur bei Masern und Röteln, sondern auch bei der unbedingt notwendigen Sechsfach-Impfung für Säuglinge“, sagte Kinderarzt Hartmann.

Außerdem ist zwar die Praxisgebühr erst ab achtzehn fällig – die Reform-Regelungen für verschreibungsfreie Medikamente greifen jedoch schon ab zwölf. Die genannten Allergiemittel etwa werden bei Kindern ab zwölf nicht mehr von den Kassen bezahlt, deshalb kommen sie auch nicht mehr zum Arzt, um sie sich verschreiben zu lassen. Hartmann erklärte, dass die Arzneien nun überhaupt nicht mehr oder ohne das nötige Beratungsgespräch gekauft werden. „Für viele Kinder heißt das, dass sie nicht mehr schulfähig sind und zu Hause bleiben“, sagte er. Es sei nicht einzusehen, dass Familien die Kosten für verschreibungsfreie Mittel aufgebürdet würden, „wenn die Bundesregierung doch immer behauptet, Familien mit Kindern entlasten zu wollen“. Der Kinderärzteverband fordert deshalb, die Altersgrenze für die Erstattung verschreibungsfreier Medikamente von zwölf auf achtzehn anzuheben. Hartmann kritisierte, dass sich der Bundesausschuss, der aus Ärzte-, Krankenkassen- und Patientenvertretern besteht, und das Gesundheitsministerium hier gegenseitig die Zuständigkeit zuschöben.

Keine fundierten Erkenntnisse gibt es nach wie vor zu der Frage, wie sich die Belastungen durch Praxisgebühr und Co auf unterschiedliche Einkommensgruppen auswirken. Zwar vermutet auch der KBV-Chef Manfred Richter-Reichhelm, dass sozial schwache Patienten „abgeschreckt“ werden. Doch Zahlen zum Verhältnis von Arztbesuchen und Einkommen produziert bislang niemand.

„Das können und dürfen wir auch gar nicht“, erklärte der Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen, Sven Auerswald, der taz. Die KV Thüringen will jedoch bis Juli „Krankheitsbilder mit Arztbesuchszahlen vergleichen“. Dann wäre wenigstens bekannt, welche Patienten mit welchen Krankheiten dank Reform weniger zum Arzt gehen. Fehlt nur noch jemand, der misst, wie viel kränker sie dann sind.