: Von Panzern und Lebenslügen
Vor 50 Jahren wurde der „Volksaufstand“ in der DDR zusammengeschossen. Alles fing an in der Stalinallee, die heute den Namen von Karl Marx trägt. Mancher Bewohner der Allee hat den Aufstand von damals noch erlebt. Aber wie ist er zu werten?
von PHILIPP GESSLER
Die Wandmalereien sind verblichen: Sie zeigen ein Leben der Freude mit Eisbechern und Sonnenschirmen in ehemals knallig bunten Farben – wie das damals eben war in den Fünfzigerjahren, als die Buntheit des Lebens die Schatten der Vergangenheit vertreiben sollte. Im Café Sibylle an der Karl-Marx-Allee sitzen an diesem Sommerabend die, die genauso auch vor 50 Jahren hier hätten sitzen können. „Erstbezieher“ der Allee, die früher den Namen Stalins trug. Aus den Lautsprechern plärrt ein Schlager, wohl aus dieser Zeit: „Berlin, Berlin wird schöner sein als Wien“, scheint eine Zeile zu lauten. Zwei Lügen in einem Satz.
Vielleicht ist ja die ganze Veranstaltung eine Lüge. Denn sie nimmt ein Datum zum Anlass, mit dem die wenigsten der rund 30 alten Herrschaften hier etwas anfangen können: den 17. Juni 1953. „Volksaufstand“ wurde er im Westen genannt – „faschistische Provokation“ im Osten. Doch was er denn nun war, dieser Tag, darüber wird hier bei Kuchen, Kaffee und Bier nicht gesprochen. Hier gehe es heute vor allem ums Kennenlernen, meint Wirt Artur Schneider, ein PDS-Bezirksverordneter.
Im Café erinnern Exponate an die Zeit, da die Stalinallee erbaut wurde: Propagandaplakate, alte Backsteine und eine Maurerkelle – einige der alten Herren hier haben die Plakate noch hängen sehen, selber Backsteine geschleppt und die Maurerkelle geschwungen. Den Stolz auf diese Zeit trübt dieser Aufstand.
Vor einem Bierchen sitzt Gerhard Lehmann, der 27-jährig im März 1953 in die Stalinallee ziehen durfte, die noch mitten im Bau war. Seine Frau Elli erhielt eine Zweizimmerwohnung im Block B-Süd als Auszeichnung für ihr Engagement als „Aktivistin“ eines Unternehmens in der Nähe. „Es ist dieselbe Wohnung, in der ich heute noch wohne“, erzählt Lehmann: „Hier bringt man mich nur mit den Füßen voran heraus“, habe seine Frau beim Einzug gesagt – „sie hat’s geschafft.“ Lehmann schwärmt von der Sonne, die den ganzen Sommer über in seine Wohnung scheint. Er preist die „tolle Hausgemeinschaft“, die es früher gegeben habe. Es ist das unspektakuläre Leben eines guten Bürgers der DDR, der das einzig Spektakuläre seines Wohnens an diesem Ort kaum mitbekam: die Ereignisse des 17. Juni 1953.
Als die sowjetischen Panzer über die Stalinallee ratterten, war Lehmann Student an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF), einer „Kaderschmiede“, wie er sagt. Er hat sie gesehen, die Panzer, hat aber „gar nüscht gemacht“, sondern ging nach Hause, um auf seine Frau zu warten, bis sie von der Arbeit kam. Den Aufstand hält Lehmann für eine „sehr gut organisierte Revolution“. Die Mauererklamotten seien gebügelt gewesen, sagt er: „Muss ich Ihnen mehr sagen?“
Die Ereignisse des 17. Juni seien in Westdeutschland „groß hochgezogen“ worden, meint Lehmann. Er selber habe sich danach in einer „Kampftruppe“ engagiert, die beim Mauerbau am 13. August 1961 an der Bernauer Straße Gewehr bei Fuß gestanden habe. Um zu signalisieren: „Bis hierher und nicht weiter.“ Schließlich „hätte es zum Bürgerkrieg kommen können“, sagt Lehmann. Er erinnert an die „Riesenleistungen“, die die „Bürger dieser Republik, der Deutschen Demokratischen Republik“, vollbracht hätten. „Was soll ich da noch sagen?“ Sein Aufstand war das nicht, am 17. Juni 1953.
Ein paar Tische weiter sitzen Horst und Inge Kornek, die ebenfalls seit mehr als einem halben Jahrhundert an der Karl-Marx-Allee wohnen – seit 50 Jahren in einer Zweizimmerwohnung im Block C-Nord. „Aufbaustunden“ haben sie geleistet, um eine Wohnung an der Prachtallee zu bekommen, die signalisieren sollte, dass im Sozialismus selbst Arbeiter in Palästen leben können. Inge, 76 Jahre alt, war früher Gerichtsreporterin, Horst Reichsbahner. Inge erzählt von der „sehr netten Hausgemeinschaft“, damals, von Kinderfesten, dem Dachgarten und den „Subbotniks“, einem gemeinsamen Aufräumen des Kellers etwa.
Inge sah die Panzer an diesem 17. Juni. Sie hätten über die Köpfe der Menge hinweg geschossen. Der Westberliner Sender Rias habe die Demonstranten an diesem Tag „aufgehetzt“, meint sie, später „kam dann der Mob, wie das üblich ist“. Horst sagt, dass die Randale von Jugendlichen damals doch nichts mit Demonstrationsfreiheit zu tun gehabt habe. Die „Einflussnahme des Westens“ habe die Situation erst eskalieren lassen. Das Ganze sei im Westen „als Volksaufstand hochgejubelt worden“: „Man wollte die DDR stürzen.“ Dabei sei es doch nur um eine Arbeitsnormerhöhung gegangen, die die Arbeiter der Stalinallee hätten rückgängig machen wollen.
Zwei befreundete ältere Damen kommen am Tisch der Korneks vorbei. Man regt sich zusammen etwas über den Vorschlag in den Medien auf, alten Menschen aus den allgemeinen Krankenkassen nicht mehr alle Operationen zu bezahlen. Ihre beiden Söhne, sagen die Korneks, hätten sich mittlerweile ihrer Meinung über die „Bundesrepublik Deutschland“ angenähert: „Ihr habt ja Recht“, würden sie nun sagen, „wir dachten, im Westen ist alles besser.“ Dann muss Kornek den Bekannten noch über die anstehende Reise durch die „Schweiz, Liechtenstein, Österreich und Bayern“ erzählen.
Die Korneks und Lehmanns mussten nicht lügen in der DDR – dies war ihr Staat, trotz des 17. Juni. Musste man dazu die Lüge zu einem ständigen Gast in seinem Herzen machen, sich selbst belügen? An der Karl-Marx-Allee leben viele, die sich mit ihrer Wahrheit und ihrer Lebenslüge arrangiert haben. Vielleicht hat deshalb das Gespräch mit ihnen etwas Angestrengtes.
Ein Treffen mit Gertraud Tietz an der Karl-Marx-Allee ist dagegen entspannt. Sie sitzt unter der Frühsommersonne vor dem Café Ehrenburg an der Karl-Marx-Allee. Schon in der Nazizeit hatte ihre Familie Probleme, weil sie als fromme Katholiken mit der Kirchenfeindlichkeit des Möchtegernmessias Hitler nicht einverstanden war.
Und diese Probleme setzten sich im SED-Regime nach dem Krieg fort. Ihre Familie hatte seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts einen Zigarettenladen, mit dem man nach 1945 in die Lebuser Straße zog, eine kleine Querstraße der Stalinallee. Als die Arbeiter der Allee ihre Demonstrationen 1953 begannen, habe sie sich darüber gefreut, sagt Gertraud Tietz. Das SED-Regime „wollten wir ja auch nicht haben“. Die SED-Genossen hätten sich bei Beginn des Aufstandes sehr schnell „verdünnisiert“. Gertraud Tietz schloss sich einer Demonstration an, die zu einem Frauengefängnis zog und Freiheit für die Inhaftierten forderte. Angst habe sie nicht gehabt: „Nee, jetzt bin ick dabei“, sagte sie zu ihrem vorsichtigeren Mann. Über „jugendliche Auswüchse“, Randale der Demonstranten, war sie ein wenig verärgert. Als sie sah, dass der Protest am Frauengefängnis umsonst war („da passierte nüscht“), ging Gertraud Tietz nach Hause.
Dann brummten die Sowjetpanzer über die Allee, „versetzt“, wie sich Gertraud Tietz erinnert: „Mir blieb die Spucke weg.“ Wollten die etwa auf Arbeiter und Bauern schießen? „Das ging nicht in meinem Kopf rein.“ Sie habe „Wut und Hass“ empfunden – und zugleich „gewusst, dass es jetzt aus ist“.
Auch Gertraud Tietz musste danach viel lügen, aber sie belog sich nicht selbst, nur den Staat. So, wie sie gegen Hitler gewesen seien, „so waren wir auch nicht für diesen Staat, weil’s ’ne Diktatur war“, sagt sie. Als ihre Mutter 1968 starb, kämpfte sie noch zwei Jahre für den Tabakladen, gab ihn dann wegen des Drucks der SED-Genossen auf. Gertraud Tietz wurde dank ihres Sprachtalents Empfangsdame im Hotel Stadt Berlin am Alex, dem heutigen Park Inn. Die große, weite Welt blieb ihr verschlossen, aber ein wenig kam sie zu ihr: Sie empfing Tito, Breschnew und „Kojak“ – doch mit dem SED-Regime fand sie sich nie ab, erst recht nicht nach dem Mauerbau 1961, mitten durch ihre Stadt.
Wenn heute ihre ehemaligen Nachbarn wie Lehmann und die Korneks sagen, dass der Aufstand vom 17. Juni vom Westen gelenkt sei, winkt Getraud Tietz nur ab: „Ach wo“, sagt sie, „das ist ja Quatsch.“ Dieser Propagandalüge der SED nach Niederschlagung des Aufstandes habe sie schon damals nicht geglaubt: „Wir wussten, dass es nicht stimmt.“ Und dennoch ist ihr Urteil milde über die, die dies heute noch behaupten: „Jeder sieht es von seiner Warte“, meint sie. Das sei doch immer so. Es hat sich nichts geändert an der Karl-Marx-Allee. Die Erinnerung verblasst, die Lüge lebt fort.