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Archiv-Artikel

Meister Eckhart des Verschwindens

Vor 700 Jahren kehrte der ehemalige Novize der Dominikaner, Eckhart von Hochheim, als promovierter Provinzial nach Erfurt zurück. Der Nachwelt ist er als der bedeutendste deutsche Mystiker bekannt. Für die Stadt Erfurt ist das Datum Anlass eines überbordenden Programms im Meister-Eckhart-Jahr

Bei aller Präsenz scheint sich Meister Eckhart seltsam zu verflüchtigen„Vereinigt euch mit dem formlosen Sein“, so Eckharts mystische Empfehlung

von RONALD BERG

Wie manch andere Stadt hat auch Erfurt seinen Lokalheiligen. Das Besondere ist nur, dass dieser jedes Jahr wechselt und eigentlich auch eher eine Erfindung des Tourismusmarketings ist als eine der Kirche. Nach Luther, Bach und dem Mathematiker Adam Riese heißt der Stadtpatron in diesem Jahr Meister Eckhart. Der gilt zwar als bedeutendster deutscher Mystiker des Mittelalters, wurde aber dennoch – oder gerade deshalb – am Ende seines Lebens der Häresie angeklagt.

Seine Verurteilung im Jahre 1329 durch Papst Johannes XXII. hat Eckhart nicht mehr erlebt, er starb wahrscheinlich im Jahr zuvor, vielleicht auf dem Weg nach Avignon, wo der Pontifex maximus damals residierte. Die päpstliche Verdammnis von 28 Sätzen aus Eckharts Lehre bedeutete einen radikalen Bruch in der ungewöhnlichen Karriere eines ungewöhnlichen Mannes, so viel ist sicher. Ansonsten weiß man von Meister Eckhart noch immer bis heute wenig Gesichertes.

Wahrscheinlich wurde Eckhart von Hochheim, ein Spross aus niederem Dienstadel, um 1260 in der Nähe von Gotha geboren. Nach Erfurt ging er als Novize der Dominikaner, studierte dann in Köln und Paris und kehrte schließlich 1303 als „Provinzial“, also als Chef der neu gegründeten, von Thüringen bis Holland reichenden Provinz Saxonia nach Erfurt zurück. Dieses Datum vor genau 700 Jahren nimmt die Stadt Erfurt nun zum Anlass, ein Meister-Eckhart-Jahr zu begehen. Seit Bundespräsident Rau im März offiziell das Jahr eröffnete, steht ganz Erfurt unter dem Motto „Wege zu Meister Eckhart – Mystiker, Theologe, Europäer“.

Nur außerhalb Erfurts hat das bislang kaum jemand bemerkt, und selbst dem auswärtigen Besucher der Thüringer Landeshauptstadt fällt der ganzjährige Eckhart-Reigen nicht gerade ins Auge. Und das, obwohl die von der Kulturdirektion herausgegebene Programmbroschüre auf 96 Seiten knapp hundert Projekte verzeichnet: Es gibt Eckhart-Ausstellungen, -Konzerte, -Tagungen, -Vorträge und -Lesungen, es gibt einen Meister-Eckhart-Preis und Stadtführungen als „Spurensuche“ zu den Stätten seines Wirkens. Dennoch, bei aller Präsenz scheint sich Eckhart seltsam zu verflüchtigen. Ein authentisches Bildnis gibt es genauso wenig wie eine überlieferte Handschrift. Ja selbst bei seinen von fremder Hand aufgezeichneten Predigten und Traktaten ist die Zuschreibung nicht immer unumstritten. Immerhin, trotz zahlreicher Lücken in seiner Biografie, lässt sich Eckharts Lehre doch wenigstens einigermaßen rekonstruieren.

Eckharts Sechsstufenlehre zum ewigen Leben – von der Reinigung über Abgeschiedenheit und Weisheit bis zur Vereinigung mit Gott, dem Einen – ist Mystik pur. Eckhart war gleichwohl ebenso gelehrter Scholastiker mit Doktorhut (daher Meister) wie Dominikanerfunktionär, der die böhmische Provinz des Ordens reformieren sollte und der als Generalvikar, also als Stellvertreter des Ordensgenerals, die oberdeutschen Nonnenklöster von Straßburg aus zu betreuen hatte. Wäre von der Person Eckharts nur mehr bekannt, er hätte sicher das Zeug zu einer Kultfigur der Sinnsucherfraktion und der spirituell Hungernden. Denn Gotteserkenntnis ist Selbsterkenntnis, erklärte Eckhart. Am Ende sei alles nur Eins. „Vereinigt euch mit dem formlosen Sein“, so Eckharts paradox-mystische Empfehlung. Leider ist viel mehr als das formlose Sein des Geistigen vom Menschen Eckhart auch kaum zu greifen. Mit einer Ausnahme: In Erfurt gibt es den einzigen authentischen Ort, wo der deutsch predigende Mystiker dingfest zu machen ist.

In der Predigerkirche, der Kirche des ehemaligen Dominikanerklosters, kommt man Meister Eckhart so nahe wie nirgendwo sonst. Hier im Chorgestühl muss er als Prior der Dominikaner vor 700 Jahren gesessen haben. Nur wo? Denn die schlichten Holzplätze sind alle gleich. Ganz vorne am Altar oder doch eher ganz hinten wie bei einem Bettelorden eher wahrscheinlich? Man weiß es nicht. Eckharts Blick wird auf den Altar gegangen sein. Doch heute ist davon nur der Unterbau, die Mensa, erhalten, der gotische Flügelaltar kam erst nach Eckhart darauf. Das bronzene Portal der Kirche mit dem Eckhart-Zitat „Das Licht leuchtet in der Finsternis …“ ist jedenfalls ein Werk jüngster Zeit. Johannes Staemmler, evangelischer Pfarrer an der Predigerkirche, versucht die Nähe zu seinem inoffizielle Vorgänger denn auch eher mit „Meister-Eckhart-Predigten“ und „Meditationen zur Nacht“ herzustellen. Für den protestantischen Pfarrer ist Eckhart ein „Geschenk der Geschichte“. Eckhart sei nicht etwa dunkel, sondern „er spricht die klare Sprache des Verstandes“, und sein reformerischer Geist sei „noch radikaler als die evangelische Kirche heute“. Vielleicht gibt es deshalb in der Gemeinde ein großes Bedürfnis, nach Eckhart zu fragen. Pfarrer Staemmler muss viel über Eckhart reden. Ergebnis? „Ich verwirre die Leute“, gesteht der Pfarrer lächelnd ein.

Ähnliche Effekte dürfte ein Kunstwerk im Kapitelsaal des ehemaligen Klosters gleich neben der Kirche auslösen. Dort hat die Japanerin Rei Naito versucht, sich mit nicht mehr zu überbietender Subtilität Meister Eckhart zu nähern, so sehr, dass viele Besucher ihr Kunstwerk gar nicht bemerken und es unabsichtlich zerstören. Denn es besteht aus einem einzigen seidenen Faden, der von der Decke hängt und damit die mittelalterlichen Spitzbögen gleichsam spiegelt. Auch die minutiösen zur Kreisform verdichteten Pünktchen im Glasfenster, für deren Anfertigung Rei Naito eine Woche benötigte, sind selbst für das wissende Auge nur unter größter Mühe überhaupt erkennbar.

Japaner haben offenbar weniger Schwierigkeiten, sich in Eckharts Denken einzufühlen als die Bewohner des christlichen Abendlandes. Schon Daisetz Taitaro Suzuki, der den Zen im letzten Jahrhundert im Westen populär machte, meinte, man könne Eckharts Gedanken „fast mit Bestimmtheit als Ausfluss buddhistischer Spekulation“ bezeichnen.

Es nimmt daher kaum Wunder, dass die Asiaten und das östliche Denken in der Ausstellung der Erfurter Kunsthalle zum Mystischen in der bildenden Kunst die stärksten Eindrücke hinterlassen. Etwa der große japanische Kalligraph Yuichi mit seinem getuschten Zeichen für Armut und spirituelle Strenge, in dem plötzlich die menschliche Gestalt aufscheint. Videopionier Bill Viola dagegen hat die mystische Verwandlung durch das Vergehen des Menschenbildes über dem stillgestellten Wasser eines Schwimmbeckens dargestellt, und Eduardo Chillida interpretiert bei seinem unterirdischen Projekt für Fuerteventura die Undarstellbarkeit des Mystischen als lichtgefüllte Leere.

John Cage kommt bei seinen Zeichnungen durch das Zufallsprinzip dem Walten des Göttlichen nahe, Jawlensky oder Marwan wählen lieber das Gesicht zum Einstieg in transzendente Welten, bei Yves Klein dient dazu das reine bildfüllende Blau, und Hiroshi Sugimoto wählt für die mystische Erfahrung den fotografischen Blick auf die ewig-zeitlose Meeresoberfläche. Insgesamt 22, zum Teil große Namen hat Kunsthallendirektor Kai Uwe Schierz unter dem Titel „Unaussprechlich schön“ aus Anlass des Eckhart-Jahres zusammengebracht.

Auf drei Ebenen umkreisen die Künstler das Mystische: als Thema, als Gleichnis oder als Erfahrung. Wie bei Anish Kapoors großem farbigen Hohlspiegel, vor dem die Wahrnehmung sich seltsam verändert. Natürlich ist die ganze Ausstellung auch ein Paradox, denn das Mystische ist im Grunde etwas Abbildloses und Unaussprechliches. Vielleicht ist deshalb der Versuch einer Mitteilung dieser Tatsache zum Trotz so anregend.

Im Herbst wird zusätzlich die kulturhistorische Ausstellung „Homo doctus et sanctus – oder Wer ist Meister Eckhart?“ im Stadtmuseum und ein von der Universität Erfurt veranstalteter Kongress zeigen, ob Eckhart der Erfurter Gegenwart doch etwas näher gebracht werden kann. Vielleicht scheint aber die sich entziehende Person Eckharts dem mystischen Ziel von dessen Lehre eher förderlich. Will man Eckhart wirklich näher kommen, muss man ihn nicht nur suchen, sondern ihn wohl auch schnell wieder vergessen. „Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht, das notwendigste Werk ist stets die Liebe“, hatte Eckhart gesagt.

Wer will bei solch hehren Worten darüber nachdenken, ob Eckhart als Touristenmagnet taugt? An die Besucherzahlen der nur zwanzig Kilometer entfernten Klassikerstadt Weimar mit ihren Wahrzeichen Goethe, Schiller, Herder, Wieland, Nietzsche und, und, und … kommt Erfurt bisher ohnehin nicht heran. Obwohl sich der Besuch im weitgehend vom Krieg verschonten Erfurt durchaus lohnt. Die noch vom Mittelalter geprägte Altstadt ist ein lebendiges Museum: Viele Bürgerhäuser, der Dom und die ehemalige Festung auf dem Petersberg sind seit der Wende zudem proper herausgeputzt.

Dem städtischen Kulturdirektor gibt das Eckhart-Event zusätzlich Gelegenheit, seinen klammen Haushalt mit Landesmitteln zu stützen. Das kommt nicht nur den Touristen zugute, sondern auch den knapp 200.000 Einwohner Erfurts. Der Tourismus könnte für das – mit Ausnahme von Jena – krisengeschüttelte Thüringen mit seinen 2,4 Millionen Bewohnern durchaus eine Wachstumsbranche sein. Gerade Erfurt hat sonst auch nicht mehr viel zu bieten. Die Hightechträume im ehemaligen DDR-Standort für Mikroelektronik haben sich nicht erfüllt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 12 bis 13 Prozent, es herrscht Stadtflucht. So bleibt am Ende das „Alleinstellungsmerkmal“ Meister Eckhart, wie es in der Sprache des Tourismusmanagers heißt. Denn mit Eckhart besitzt Erfurt tatsächlich eine konkurrenzlos Attraktion. Am Ende hat die „selbstverständliche Verpflichtung zur Erinnerung an die Persönlichkeit des Meister Eckhart“, mit der Oberbürgermeister Manfred O. Ruge das Eckhart-Jahr legitimiert, dann doch wohl eher profane Gründe.

Bis 22. Juni: „unaussprechlich schön“, Kunsthalle Erfurt. Weitere Infos: www.erfurt.de/Meister-Eckhart