: Auf zu neuen Ufern an der Oder
In Aurith und Urad, zwei Dörfern an der Oder, gibt es seit Oktober eine Wandzeitung. Polnische Bewohner werden in Deutschland vorgestellt und umgekehrt. Am 1. Mai wird erstmals seit 60 Jahren eine Fähre über den Fluss setzen
Ein wolkiger Tag an der Oder. Vor dem Kindergarten im polnischen Dorf Urad spielen die Kleinen unter den Augen ihrer Mütter und Großmütter. Es ist wieder so weit: die neueste Ausgabe der Wandzeitung wird an die Litfaßsäule geheftet. Allmählich taucht das lebensgroße Porträt von Thomas Jurke auf. Jurke lebt auf der anderen Seite der Oder, im brandenburgischen Aurith.
Die Wandzeitung ist Teil eines ungewöhnlichen Kunstprojektes. Seit Oktober 2003 sind inzwischen fast dreißig Ausgaben der Zeitung an die Litfaßsäulen geheftet worden. Deutsche wie Jurke wurden damit in Urad vorgestellt, Bewohner von Urad in Aurith.
„Ja, natürlich lese ich die Wandzeitung. Nicht jede Woche, da man so viele eigene Sorgen hat“, sagt Zofia Wujtyna, die Großmutter des kleinen Michał. „Die anderen lesen sie auch. Von Zeit zu Zeit fällt ein Teil davon ab, weil es windig ist. Manchmal reißt jemand auch etwas ab oder malt etwas dazu, so ist es in einem Dorf.“
Thomas Jurke beendet seine Arbeit. Er ist nicht nur der Held der neuesten Ausgabe, sondern auch zuständig für die handwerkliche Seite des Projekts. Die Leser in Urad erfahren, dass er gelernter Facharbeiter für Forstwirtschaft ist, der erfolglos einen Kredit für die Gründung eines eigenen Sägewerks zu bekommen versuchte. Jurke gibt aber nicht auf und will schwer dafür arbeiten, um sich eine Bandsäge in Polen kaufen zu können. „Die Idee der Wandzeitung gefällt mir, sonst wäre ich nicht dabei“, meint der eigenwillige Thomas Jurke. „Ob wir die polnischen Nachbarn dadurch besser kennen lernen, weiß ich nicht. Aber es ist sicher ein guter Anfang.“
Am Anfang war die Idee. Steffen Schuhmann, Student im Fachgebiet Kommunikationsdesign der Kunsthochschule Weißensee, wollte mit einfachen Mitteln (Fotografie und Grafikdesign) zwei Gruppen von Menschen, die sich fremd sind, miteinander bekannt machen.
„Irgendwann fuhr ich nach Aurith und sah die Leute, wie sie auf den gegenüberliegenden Ufern der Oder stehen, sich angucken und gar nichts voneinander wissen“, sagt Steffen über seine erste Kundschaftsreise nach Aurith und Urad.
Vor dem Zweiten Weltkrieg waren die beiden Orte noch ein gemeinsames Dorf. Nach der Grenzziehung an der Oder wurde auch die Fährverbindung eingestellt. Zwischen den Dörfern und ihren neuen Bewohnern gab es keinen Kontakt mehr.
„Den wollten wir ermöglichen, indem wir jede Woche zwei Storys für die Wandzeitung produzieren. Eine für die Bewohner von Urad über jemanden aus Aurith und umgekehrt“, erzählt Schuhmann.
Fokus der Texte war die Gegenwart. Die Wandgeschichten konzentrieren sich auf die täglichen Sorgen und Wünsche ihrer Helden. „Wir wollten es vermeiden, dass wir das Thema berühren, wer wem etwas angetan hat“, sagt Steffen Schuhmann. „Unser Ziel war einfach, das Thema der Nachbarn vom gegenseitigen Ufer ins Gespräch zu bringen.“
Ob es gelungen ist, kann man am 1. Mai in beiden Dörfern selbst beobachten. Alle Ausgaben der Wandzeitung werden von diesem Tag an bis zum 16. Mai auf den beiden Fährbuhnen zu einer Ausstellung versammelt sein. Zusammen mit der Eröffnung der Ausstellung wird die Fährverbindung zwischen den beiden Dörfern wieder aufgenommen, zumindest für einen Nachmittag. Die Fähre legt von 15 Uhr an ab.
„Wir fahren gerne auf die andere Seite, klar.“ Die Mütter und Großmütter vor dem Kindergarten in Urad sind schon entschlossen, am 1. Mai die Nachbarn in Aurith zu besuchen. „Vielleicht lernen wir diejenigen kennen, die bei uns auf der Wandzeitung waren.“ Schade finden sie nur, dass es diese Verbindung nur einen Tag lang gibt. „Danach werden wir wieder getrennt wohnen. Wir brauchen aber immer eine Brücke oder eine Fähre.“ IZABELA JOPKIEWICZ
reportage SEITE 5Mehr über Wandzeitung und Porträtierte unter www.anschlaege.de