: Zwölftonmusik fürs Autoradio
„Ich bin gespannt, wie sich das Ende der Musik anhören würde“: Ein Gespräch mit dem brasilianischen Musiker Caetano Veloso über sein erstes englischsprachiges Album, seine Zeit im Londoner Exil und über seine Faszination für die westlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts
INTERVIEW MAX DAX
taz: Mr. Veloso, Sie sind Brasilianer, aber auf Ihrem neuesten Album „A Foreign Sound“ singen Sie auf Englisch.
Caetano Veloso: Das ist ein altes, ein sehr altes Projekt von mir – ich habe ja bisher fast ausschließlich auf Brasilianisch gesungen. Die Idee kam mir bereits 1969, als ich während der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur im Exil in London lebte. Mit Freunden hatte ich dieses Projekt ausgeheckt, wir waren uns aber einig, dass noch ein wenig Zeit vergehen sollte, bis es wirklich reif sein würde. Als ich dann nach ein paar Jahren 1972 wieder nach Brasilien durfte, nahm ich mir vor, die Platte dort aufzunehmen. Aber ich wurde in Brasilien ein großer Star, ich habe den Plan immer und immer wieder vor mir her geschoben.
Wie ergeht es Ihnen heute, wenn Sie sich in London aufhalten?
Anders natürlich, aber Westeuropa unterscheidet sich gar nicht so sehr von Brasilien. Diese Stadt liegt so seltsam abseits der Welt, als ob sie die Sonne und ihr eigener Trabant wäre. Ich meine: London hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Hinterland, mit England zu tun. Ich fühle mich eigentlich immer in Europa wohl, auch wenn es nicht tropisch ist wie zu Hause.
Keine schlechten Erinnerungen? Immerhin waren Sie in London gegen Ihren Willen.
Ich habe das erste Jahr im Exil seinerzeit bitter gelitten. Ich hatte Heimweh und spürte die Saudade. Ich habe London gehasst, weil ich damals dachte, dass die Stadt so anders sei als meine Heimat. Das andere Wetter und die fremde Sprache und das ungewohnte Temperament der Menschen. Aber irgendwann habe ich festgestellt, dass London wie Rio oder New York eine Stadt des Westens ist. Im Süden Brasiliens, südlich von São Paulo, gibt es übrigens Gegenden, in denen das Wetter ganz ähnlich wie in England ist. Dort gibt es Jahreszeiten wie in Europa: Sommer und Winter, Frühling und Herbst. Und kulturell wird Ihnen in Brasilien jeder bestätigen, dass er sich dem Westen zugehörig fühlt.
Sie haben Ihr englischsprachiges Album „A Foreign Sound“ genannt – nicht etwa „Foreign Songs“. Hat das eine tiefere Bedeutung?
Das ist eine Zeile von Bob Dylan, sie lautet: „So don’t fear if you hear / A foreign sound to your ear“, und stammt aus dem Song „It’s Alright Ma (I’m Only Bleeding)“. Mir war schon 1969 klar, dass dieser Song unbedingt das Kernstück meines Albums ausmachen müsste.
Warum gerade dieser Song? Das ist ein so düsteres Stück.
Eben deswegen. Es ist ein Song über psychische Unterdrückung und Freiheitsberaubung. Aber es gibt noch einen anderen, für mich fast noch wichtigeren Aspekt: Dieser Song klang wie die Lieder, die wir aus dem Nordosten von Brasilien kennen. Dort singen sie traditionelle, brasilianische Balladen, die an die Country-Lieder von Hank Williams erinnern. Und Dylans „It’s Alright Ma (I’m Only Bleeding)“ klang, als wäre der Song eine dieser Balladen. In diesen Liedern aus dem Nordosten geht es zumeist um einen berühmten Banditen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein Unwesen getrieben hat. Er war wirklich sehr berühmt, dieser Bandit aus dem Busch – und die Lieder handeln von seinen Taten und Abenteuern.
War er berühmt, weil er im Grunde ein guter Mensch war, wie Robin Hood?
Er war ein Guerillakämpfer, aber das mögen die Menschen. Er war ein sehr einfacher Mann. Er repräsentierte eine Form des Aufstands gegen den von der Regierung ausgeübten sozialen Druck, den man im Nordosten des Landes als Mensch tagtäglich zu spüren bekam. Er war ein Volksheld, obwohl er mit seiner Bande geraubt, gemordet und vergewaltigt hat. Im Nordosten gibt es auch andere Lieder, aber sie werden alle in dieser narrativen, wütenden Art gesungen.
Sie haben für Ihr neues Album auch viele Jazz-Standards aufgenommen – sowie einen fast atonalen Noise-Song von Arto Lindsays Band DNA. Was hat Sie daran fasziniert?
Das war doch toll, wie die da Anfang der Achtziger in New York angefangen haben, Lärm zu machen, oder? In Downtown Manhattan, das war die No Wave. Ich habe DNA geliebt. Für mich war es klar, dass ich eines Tages einen Song von ihnen aufnehmen würde. Also habe ich einen Freund von mir gefragt, einen sehr gut ausgebildeten Musiker und Komponisten, ob er mir nicht eine Orchesterfassung dieses Songs von DNA schreiben könnte. Also hat er ein Symphonieorchester mit sehr kultivierten Musikern dazu gebracht, ins Symphonische zu übersetzen, was Arto Lindsay und seine Gang da an atonalem Krach verbrochen hatten. Er hat eine Partitur für die Streicher geschrieben, die genau übersetzt hat, was Arto als Autodidakt an atonalen Stakkatos auf seiner falsch gestimmten Gitarre gespielt hat. Ich liebe das Resultat – Experimente wie diese bringen die Musik voran.
Woher kommt Ihre Liebe zu westlicher Avantgarde-Musik? In Ihrem Buch „Tropicalia. A Story of Music and Revolution in Brazil“ widmen Sie der Musik gar ein ganzes Kapitel.
Meine Liebe zur Avantgarde erblühte, als ich noch ein Teenager war. Ich war völlig fasziniert von experimenteller Musik, Kunst und Literatur. Alles, was anders klang, aussah oder sich anders las, hat mich in den Bann gezogen. Das waren damals die Zeichen der Zeit. Für mich bedeutete das, teilzuhaben an einem Prozess, die Geschichte dieser Kunst mitzuerleben zu dem Zeitpunkt, wo sie stattfand. Wenn Sie zu sprechen lernen, wenn Sie lesen lernen, singen lernen, zu malen, wenn Sie lernen, Filme zu sehen und Bilder zu betrachten, kurz: Wenn Sie erwachsen werden, dann sind Sie in einer Vorwärtsbewegung. Und wenn Sie in dieser Vorwärtsbewegung feststellen, dass das, was Sie da gerade mit Interesse verfolgen, etwas völlig Neues ist, dann ist das schon ungemein spannend.
In Ihrem Buch stellen Sie die Frage, was wohl passiert, wenn die Menschen sich eines Tages an die atonale Musik gewöhnt haben werden. Was wird nach der Avantgarde kommen?
Zunächst einmal hat uns die Moderne oder die Avantgarde Freiheit gebracht. Die Welt der Kunst ist die Welt der Freiheit. Ich habe tiefe Freiheit der Gedanken empfunden, als ich das erste Mal einen Bossa nova von João Gilberto gehört habe – weil er den Samba dekonstruiert hatte. Da war ich 17. Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, warum die ganze Kunst seit den Expressionisten und insbesondere im 20. Jahrhundert sich Schritt für Schritt dekonstruiert hat. Ich vermute, dass die akademischen und die klassischen Formen im Sinne der Gedankenfreiheit aufgebrochen werden mussten. Heutzutage sind Kunstwerke oftmals Kommentare über die Kommentare über die Kommentare über gewesene Strukturen. Ich finde das wahnsinnig spannend, wie wir heute das Ende der Postmoderne beobachten können – ohne Antworten zu haben. Einer der ernsten Musiker, die ich am liebsten mag, ist Anton Webern. Seine Klänge sind Schönheit für mich. Und trotzdem, obwohl wir am Ende der Dekonstruktion angelangt scheinen, kann ich nirgendwo den Tod der tonalen Musik feststellen. Wir bringen den Kindern in der Schule ja noch Melodien bei, oder? Ich bin gespannt, wie sich das Ende der Musik anhören würde.
John Cage hat es mit seinem berühmten Stück „4.33“ ja versucht: Es besteht aus der Reaktion des Publikums auf vier Minuten und 33 Sekunden Stille.
John Cage hat der Musik Impulse gegeben, so wie Marcel Duchamp der Kunst neue Wege geebnet hat. Ich glaube einfach, dass es die westliche Zivilisation war, die diese radikalen Schnitte geradezu eingefordert hat. Ich war immer fasziniert von der Poesie der Abstraktion, und eigentlich hätte ich Filmer werden müssen, hätte ich wie Godard die einzelnen Komponenten, Bild, Ton, Musik, Schnitt, Schauspiel, Zeit und Farben, zu etwas Neuem zusammenfügen müssen. Aber ich bin nun einmal in die Falle der populären Musik getappt – und singe mitunter in Fußballstadien. Denn populäre Musik heißt nun einmal, dass sie tendenziell eher schön ist, eher leichter, eher anschmiegsam. Außerdem besteht sie aus etablierten Bestandteilen: aus Reimen, korrekten Harmonien und tradierten Rhythmen. In der hohen Kunst sind all diese Bestandteile über Bord geworfen worden.
Aber da, wo ich tätig bin, da arbeitet man mit der Tradition, mit den überkommenen Formen. Und mein Anteil ist nun, dass ich Experimente trotzdem zulasse. Heute kann man überall sehen, wie sich die Massenkultur bei der Avantgarde ihre Formen ausborgt. Gucken Sie sich MTV an: Einige dieser Clips sehen aus wie Avantgarde-Kurzfilme aus den Zwanzigern und Dreißigern. Sie erinnern mich an René Claire oder an die deutschen Expressionisten um Murnau und Lang. Auch an Buñuel und Dalí, als sie noch gemeinsam ihre surrealen Filme gedreht haben. Im Gegensatz dazu hat sich das große Kino, das Hollywood-Kino insbesondere, im Grunde auf ein totes Gleis begeben und ergeht sich in Repetition, erzählt zum wiederholten Mal die gleichen Geschichten. Das muss man heute sogar Genies wie Godard und Lars von Trier attestieren. Das Kino steckt in einer narrativen Krise, und das deutsche Kino gibt es nicht mehr.
Das ist eine These, die auch der Regisseur Peter Greenaway lautstark vertritt: Er sagt, dass die Revolutionen, die in der Literatur, der Musik und in der Malerei stattgefunden haben, am Kino abgeperlt sind.
Er hat mit seiner Kritik an der Traumfabrik völlig Recht. Sehen Sie sich doch nur einmal die elektronische Tanzmusik an, die sich Karlheinz Stockhausen in atemberaubender Geschwindigkeit und Konsequenz genähert hat. Ich beobachte das alles sehr genau. Ich weiß, wo Köln liegt. Manchmal frage ich mich, was wohl passieren würde, wenn wir Webern, Cage und all die anderen eines Tages ganz selbstverständlich im Autoradio hören könnten. Stellen Sie sich doch einmal vor, Sie würden auf der Fahrt von Rio nach São Paulo oder von Berlin nach München das Radio anschalten und könnten der Auflösung der Zwölftonmusik lauschen. Ich glaube, dass viel mehr Menschen die Reize dieser Musik für sich entdecken würden, wenn sie nur mit der Musik in ihrer Reinform konfrontiert würden. Die Musik, die ich mache, befindet sich in der Mitte dieses ebenso faszinierenden wie verwirrenden Spannungsfeldes.