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Archiv-Artikel

„Da waren wir alle wie Träumende“

Mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Marienkirche am Alex gedenkt fast die ganze Staatsspitze des Aufstands vom 17. Juni 1953: Kluge Worte fallen dabei viele – aber was sind die gegen die Psalmen und die Musik Bachs?

Helga Kotlarek, „geborene Schulze“, wie sie betont, hat so einiges an Geschichte erlebt – aber nur ein Ereignis sei ihr in ihren 73 Jahren hier auf Erden noch lebhaft in Erinnerung: jener Tag vor 50 Jahren, da die Bauarbeiter der Stalinallee vor ihrem Bürofenster an der Jannowitzbrücke vorbeimarschierten. Mit anderen Frauen arbeitete sie im Außenhandelsamt der DDR. Sie seien an die Fenster gerannt, um die Bauarbeiter und ihren Zug anzuschauen. Die leitenden Genossen hätten sie zurückgerufen vom Fenster. Wenige Stunden später wurde der Aufstand der Arbeiter des 17. Juni 1953 niedergeschossen. Und deshalb sitzt sie heute hier, in einer Kirchenbank der St.-Marien-Kirche am Alex.

Neben Helga Kotlarek ist in der renovierungsbedürftigen Backsteinkirche fast die gesamte Berliner Republik zu einem ökumenischen Gottesdienst versammelt: unter anderen Bundespräsident Johannes Rau, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, einige Bundestagsabgeordnete sowie die Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch. Hinzu kommen die beiden Spitzen der Großkirchen, Kardinal Karl Lehmann und Präses Manfred Kock. Sie alle wollen des Aufstands vor einem halben Jahrhundert gedenken. Ein Aufbegehren nicht nur gegen höhere Arbeitsnormen, sondern auch gegen eine entstehende Diktatur.

Die Offenheit des Gottesdienstes – jeder kann dabei sein, es gibt keine Kontrollen – kontrastiert zur Geschlossenheit des DDR-Staates, der ohne einen riesigen Überwachungsapparat nicht existieren konnte und zusammenbrach, als die sowjetischen Panzer im November 1989 nicht rollen durften. Doch wen interessiere dies alles noch, fragt sich Helga Kotlarek in ihrer Kirchenbank: In Westdeutschland, wo sie später lebte, sei das Gedenken an den Aufstand beim „Tag der deutschen Einheit“ am 17. Juni doch „immer mehr abgeflacht“, erinnert sie sich. Auch jetzt sei die Kirche kaum gefüllt: „An den Leuten geht das vorbei“, meint sie resigniert.

Als hätte Kardinal Lehmann das Wort gehört, nimmt er den Gedanken in seiner Predigt auf: Der 17. Juni sei nicht nur deshalb eine Niederlage, weil der Aufstand niedergeschlagen worden sei und viele Menschen hingerichtet wurden. „Eine Niederlage ist dieser Tag auch, weil wir ihn in Ost und West 50 Jahre ziemlich schmählich behandelt haben“, sagt er. Dennoch sei der 17. Juni 1953 „nicht umsonst“ gewesen – nicht zuletzt, weil der Stolz der Demonstranten auf den Versuch eines Regimewechsels bis 1989 untergründig weitergewirkt habe. Elegant zitiert der katholische Bischof von Mainz in der evangelischen Kirche eine Auslegung Luthers zum Magnifikat Mariens: „Wenn nun die Bedrückung aus ist, dann kommt’s heraus, was für eine Stärke unter der Schwäche dagewesen ist … In solcher Weise sind alle Märtyrer stark gewesen und haben’s gewonnen, und so gewinnen’s auch jetzt noch alle Leidenden und Unterdrückten.“

Helga Kotlarek nickt während des Gottesdienst recht oft zustimmend, auch als Präses Kock den Aufstand mit Hilfe des Psalms 126 deutet: „Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende“, zitiert er. „Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.“ Auch heute brauche die Gesellschaft Kraft, „neue Kraft“, um die damaligen Ziele zu vollenden: Einheit und Freiheit.

Was bewegen Worte? Nur einer der Akteure in der Kirche scheint einen Augenblick lang bewegt zu sein: Klaus Gronau, ein Vertreter der Opferverbände, dem am Ende einer Fürbitte kurz die Stimme zittert. Helga Kotlarek sagt nach dem Schlusssegen, es sei „angenehm“ gewesen, „angemessen“. Dann geht sie raus aus der Kirche, in die strahlende Sonne des Alexanderplatzes. Die Kantate 131 von Johann Sebastian Bach ertönt im Gottesdienst – und nur in diesen Augenblicken scheint noch so etwas wie Trauer über den fehlgeschlagenen Aufstand vor 50 Jahren aufzukommen: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“ Vielleicht kann, da schon alles gesagt ist, nur Musik noch etwas sagen.

PHILIPP GESSLER