Diesseits des Nullpunkts

In den späten Neunzigern befreite das „nuevo cine argentino“ den Film von allem, was überflüssig war. Auf dem am letzten Sonntag zu Ende gegangenen Internationalen Festival des Unabhängigen Films in Buenos Aires stellte die nächste Generation argentinischer Regisseure ihre Werke vor

Wenige Filmemacher können an die Stärken des „nuevo cine argentino“ anknüpfen

VON CRISTINA NORD

Die Kamera schweift an der Unterseite der Baumkronen entlang. Viel Licht fällt nicht durch das Blattwerk. Es flirrt in dem Maße, wie sich die Äste und das Laub im Wind bewegen. Bald wechselt die Kamera den Standpunkt, indem sie den Boden fokussiert und durch das Unterholz streift wie ein Hund auf Spurensuche. Sie fährt an einem ersten bewegungslosen Körper vorbei, wenig später an einem zweiten. Dann streift sie die Beine eines anderen, Stehenden, eine Machete rückt ins Bild. Wieder wechselt die Kamera die Blickrichtung, indem sie von unten nach oben schaut, den Blättern und dem Himmel entgegen. Allmählich löst sich das Bild in giftiges Grün auf. Bis zum Schnitt vergeht eine Weile. Das Bild bleibt währenddessen monochrom.

Mit dieser vibrierenden Sequenz beginnt Lisandro Alonsos Spielfilm „Los muertos“ („Die Toten“), der am Wochenende das sechste Internationale Festival des Unabhängigen Films in Buenos Aires beschloss. Das 1999 gegründete Festival darf sich zu Recht rühmen, wie kaum ein zweites von Leidenschaft für den Film angetrieben zu sein. Neben dem aus Debüts und zweiten Filmen zusammengesetzten Wettbewerb und einem in thematischen Blöcken gegliederten Hauptprogramm gibt es mehrere Werkschauen – etwa von Heinz Emigholz, Glauber Rocha, Thom Andersen, James Benning und Jonas Mekas. Daneben begreift sich das von dem Kritiker Quintín geleitete Festival als Schaufenster für das neue argentinische Kino. Das hat auch hierzulande Bekanntheit erlangt, seit Lucrecia Martel ihr Debüt „La Ciénaga“ 2001 im Wettbewerb der Berlinale präsentiert hat.

Das nuevo cine argentino verdankt sich dem Zusammentreffen verschiedener Faktoren. Allein in Buenos Aires existieren mehrere Filmschulen; die Zahl der Filmstudenten in der Hauptstadt wird auf 10.000 geschätzt. Ausländische Koproduzenten knüpfen ihre Unterstützung nicht wie früher an ästhetische oder technische Auflagen, sondern gewähren – wie etwa der Rotterdamer Hubert Bals Fund – gestalterische Freiheit. Die jungen Regisseure und Regisseurinnen sind bereit, mit geringen Budgets zu arbeiten, und beweisen dabei erstaunlich oft das Geschick, aus der Not eine Tugend zu machen – etwa indem sie mit Laien drehen und dadurch das übertriebene Spiel mancher professioneller Darsteller aus ihren Filmen fern halten.

In Buenos Aires gibt es zudem eine lebendige Filmkultur: mit einem neugierigen Publikum, mit lesenswerten Zeitschriften wie El Amante oder Kilómetro 111 und mit einigen Sälen, deren Programmation das Einerlei aus Blockbuster und Arthouse weit hinter sich lässt. Und so fatal die Dollar-Peso-Angleichung der Neunzigerjahre für die Ökonomie des südamerikanischen Landes war, hatte sie für die Filmindustrie doch einen positiven Nebeneffekt: Kameras und Computer für die Postproduktion – zuvor nur im Rahmen großer Budgets erschwinglich – waren nun zugänglich.

Kam zu dieser glücklichen Konstellation Talent hinzu, entstanden so außergewöhnliche Filme wie Lucrecia Martels „La Ciénaga“, Pablo Traperos „Mundo Grúa“ und „El Bonarense“, Lisandro Alonsos „La Libertad“ oder Adrián Israel Caetanos „Bolivia“. Von allem, was überflüssig war im argentinischen Kino, schreibt der Kritiker Diego Lerer, hätten sich diese Filme befreit: „von den Substantiven, den Adjektiven, dem Overacting, den überfrachteten Plots und den Falschheiten; wir sind am Nullpunkt angekommen“.

Beim diesjährigen Festival zeigte sich jedoch rasch, dass nicht jeder junge Filmemacher an die Stärken des nuevo cine argentino anknüpfen kann. Homero Cirelli etwa streift in „Berlín“ mit der Betacam in der Hand durch die deutsche Hauptstadt, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie er den Blick des Rucksacktouristen transzendieren könnte. Mario Levin kehrt in „Sola como en silencio“ („Allein wie in Stille“) zu einer Spielart des theatralischen Kinos zurück, die nicht nur vom entschlackten Realismus der neuen argentinischen Filme, sondern überdies von anderen theaternahen Filmen wie Lars von Triers „Dogville“, Jacques Rivettes „Va savoir“ oder João Monteiros „Vai e vem“ verworfen wird. Der ehemalige Pilot Enrique Piñeyro schließlich setzt in seinem Wettbewerbsbeitrag „Whisky Romeo Zulu“ ganz auf die Muster des Politthrillers, um die wahre Geschichte eines durch Schlamperei verursachten Flugzeugabsturzes nachzuerzählen. Das funktioniert zwar innerhalb der Genreregeln gut und wurde vom Publikum mit einem Preis honoriert, folgt jedoch einer so konventionellen Dramaturgie, dass „Whisky Romeo Zulu“ gegenüber den übrigen, künstlerisch eigensinnigen Produktionen des Wettbewerbs deutlich abfiel.

Man musste ein wenig suchen, bis man die interessanten argentinischen Produktionen fand. Daniel Rosenfelds Film „La quimera de los héroes“ („Die Chimäre der Helden“) schaut einem Rugby-Coach in der Provinz zu. Der dicke Weiße trainiert eine indigene Mannschaft, in seiner Freizeit sammelt er Waffen und Ausrüstung aus dem Zweiten Weltkrieg, oder er lässt sich von seiner Frau die Füße massieren. Früher sei er Rassist gewesen, sagt er einmal. Jetzt fährt er mit der Mannschaft nach Buenos Aires zu einem wichtigen Spiel. Als die Sportfunktionäre ihm unter einem Vorwand die Spielgenehmigung verweigern, sagt er: „Entweder seid ihr ganz große Hurensöhne, oder ihr seid Rassisten.“ Damit setzt er seinen Willen durch. Die Kamera rückt ihm gerne und oft auf den mächtigen Leib. Die Nahaufnahmen treten an die Stelle von Erklärung und biografischer Verortung; dabei bleibt in der Schwebe, ob „La quimera de los héroes“ eine Geschichte dokumentiert oder erfindet. Wäre Rosenfelds Film schlechter fotografiert oder montiert, liefe er Gefahr, sich im Banalen zu verlieren; so jedoch erlangt er an der Schwelle von Dokumentation und Fiktion eine eigene Spannung.

Den Hauptpreis des Festivals erhielt Ana Poliaks Spielfilm „Parapalos“. Die 1962 geborene Regisseurin verschreibt sich derselben Nüchternheit wie Rosenfeld. Statt um den großen narrativen Entwurf geht es ihr um die Handgriffe, die man jeden Tag ausführt, um die Frage, wie es ist, sich mit der Cousine eine Einzimmerwohnung teilen zu müssen oder das Tageslicht nur selten zu erleben, weil man nachts arbeitet. Während der Vorspann läuft, sitzt der Protagonist nackt in einer Arztpraxis. Poliak lässt sich viel Zeit für diese Szene, in der man den Händen des Arztes dabei zusieht, wie sie den Körper abtasten, und eine Stimme aus dem Off hört, die eindringlich vor den Gefahren der Nachtarbeit warnt. Doch der junge Mann hat keine Wahl: Er wird demnächst Spätschichten in einer Bowlingbahn übernehmen. Die Hälfte der Bahnen dort funktioniert automatisch, bei den anderen müssen die umgestoßenen Kegel per Hand aufgestellt werden. Die Neigung zum Unspektakulären tut „Parapalos“ gut; zugleich verhindert sie, dass der Film über sich selbst und seinen Realismus hinauswächst, so wie Lisandro Alonsos „Los muertos“ es tut.

Denn „Los muertos“ – demnächst wie Lucrecia Martels zweiter Film „La niña santa“ („Das heilige Mädchen“) in Cannes zu sehen – birgt unter seiner nüchternen Oberfläche eine existenzielle Dimension. Nachdem sich das Blätterwerk der ersten Sequenz in Grün aufgelöst hat, folgt der Film einem Mann, der aus dem Gefängnis entlassen wird. Mit einem Kanu fährt er flussaufwärts in immer entlegenere Gebiete, bis er am Haus seiner Tochter ankommt, ohne ihr jedoch zu begegnen. Indem Lisandro Alonso alle Konnotationen des Flussfahrtsmotivs ausschöpft – die Ursprungssuche, den Selbstverlust und den Aufbruch ins Totenreich –, verleiht er seinem Film die schillernde Qualität großen Kinos.