Frau Pusch hilft bei der Rente

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

„Ich habe gehört, Sie sind so nett und helfen Doofen wie mir“, sagt die 60-Jährige. „Passen Sie auf, ich fülle das für Sie aus, übermorgen ist das bei der Versicherung und Sie sind das Ganze los“, sagt Waltraud Pusch. „Ein Lichtblick!“, ruft die Besucherin begeistert.

Die Menschen, die zu Waltraud Pusch kommen, verhalten sich ein bisschen wie beim Zahnarzt. Sie sind unsicher und manchmal auch verängstigt. Sie befürchten nicht, dass Waltraud Pusch ihnen wehtun könnte. Aber vielleicht das, was sie sagen wird. Sie wissen nicht, was sie erwartet. Sie haben viel in der Zeitung gelesen über Anpassung, Einschnitte und Niveausicherung. Sie haben im Fernsehen Politiker reden hören, die einen dafür, die anderen dagegen. Nun haben sie den Durchblick verloren. Deshalb gehen sie zu Waltraud Pusch.

Waltraud Pusch ist selbst Rentnerin, und sie kennt sich aus. Sie ist Versichertenälteste der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (siehe Kasten). Dienstags, mittwochs und donnerstags berät die 63-jährige Rentner und solche, die es werden wollen. Es ist nämlich so: Auch wer ein Leben lang gearbeitet hat, bekommt nicht automatisch Rente. Sie muss beantragt werden. Wer das versucht, kann leicht den Überblick verlieren inmitten von Formularen, die R 240, V 110, R 100, L 305, V 410 oder R 665 heißen. Angesichts von Wortungetümen wie „Antrag auf Überführung von Zusatzversorgungsanwartschaften“ kapitulieren irgendwann die meisten.

„Ich habe mich mit dieser Thematik noch nie beschäftigt“, gesteht ein 62-jähriger Selbstständiger. „Ab 1. April 2005 haben Sie Anspruch auf Rente. Aber Sie haben mehr Geld im Portemonnaie, wenn Sie es bis 65 schaffen“, sagt Waltraud Pusch.

Mittwochs kann man Frau Pusch im Rathaus des Berliner Bezirks Pankow treffen, einem neogotischen Backsteinbau mit Marmortreppen, goldverzierten Säulen und Jugendstillampen. Mit über 300.000 Einwohnern ist Pankow der größte Verwaltungsbezirk Berlins. Entsprechend groß ist der Andrang: angehende Rentner, die nicht wissen, wie und wann sie ihren Antrag stellen sollen. Pensionäre, die sich fragen, ob ihre Rente richtig berechnet wurde. Arbeitslose, die überlegen, Rente zu beantragen, statt weiter Leistungen vom Arbeitsamt zu beziehen. Und Arbeitnehmer, die vorsichtig anfragen, mit wie viel oder mit wie wenig Rente sie rechnen können oder müssen.

„Ich will mal einen Überblick haben“, sagt ein 60-jähriger Arbeitsloser. „Sie haben jetzt etwa 1.130 Euro erwirtschaftete Rente, bei einer Steigerung von 15 Euro pro Jahr. Ehrlich gesagt, das ist nicht dolle“, sagt Waltraud Pusch. „Herr Schröder gönnt uns nicht mal ein Prozent.“

In Zimmer 219, einem großen, nüchternen Raum mit drei langen Tischen in Hufeisenform und über 40 leeren Stühlen, bietet Waltraud Pusch ihre Dienste an. Am auffälligsten sind ihre knallrot lackierten Fingernägel. Sie ist dezent geschminkt, Ton in Ton gekleidet, die Haare dunkelrot gefärbt. Knallig rot ist auch ihr Terminkalender. Als Grundlage für diesen Tag, von dem Waltraud Pusch nicht weiß, wann er enden wird, weil nach den Bestellten die Unbestellten kommen, dient ihr ein ausgiebiges Frühstück.

Punkt zwölf sitzen dann die Ersten vor ihr. Ein Sohn mit seiner Mutter, deren Ehemann gestorben ist. Die beiden breiten all die Unterlagen vor Waltraud Pusch aus und blicken sie hilflos an. Sie wissen nicht, wie es um die Witwenrente steht. „Das macht doch nichts“, sagt Waltraud Pusch gut gelaunt. „Dafür bin ich ja da.“

Sohn und Mutter nehmen eine entspanntere Haltung ein. Waltraud Pusch füllt ein halbes Dutzend Formulare aus, während sie ununterbrochen Fragen stellt und wie nebenbei berechnet, wie hoch die Witwenrente ausfallen wird. Mit schwungvollen Kreuzen markiert sie dann die Stellen, wo man unterschreiben soll. Nach zwanzig Minuten ist alles erledigt. Waltraud Pusch wird die Unterlagen persönlich bei der Versicherung abgeben. Mit einem herzlichen Händedruck bedanken sich Mutter und Sohn.

„Die Rentner werden ganz schön geschröpft“, beklagt sich eine 59-jährige Frau, die am 1. Juni in Rente geht. „Find ich auch“, sagt Frau Pusch. „Das ist die Regierung. Was soll ich da machen?“

„Der Nächste, bitte!“, ruft Waltraud Pusch und steckt den Kopf durch die Tür. Es kommen weitere Witwen, die ihre Telefonnummer vom Bestatter bekommen haben. Der will Geld sehen und weiß, dass die Witwen bei der Beraterin erfahren, dass sie drei Monate die volle Rente ihrer verstorbenen Männer kriegen. Andere haben über Freunde oder Arbeitskollegen von Waltraud Pusch gehört.

Eigentlich ist sie Schuhverkäuferin von Beruf. Sie bekam einen Sohn, pausierte einige Zeit und dachte dann: „Nee, das kann doch nicht alles sein.“ Also machte sie eine Umschulung zur Buchhalterin und eine Ausbildung als Sozialversicherungsfachangestellte. 1974 fing sie bei der AOK „ganz unten“ an, wurde Teamleiterin und spezialisierte sich auf Rentenversicherungen. Vor drei Jahren dann ging „Puschi“, wie die Kollegen sie nannten, selbst in Rente. Die ehrenamtliche Beratung, die sie während ihrer Arbeitszeit begonnen hatte, nahm sie mit in den Ruhestand. Auf zwanzig Jahre kommt sie nun schon.

„In zehn Jahren zahlt der Staat vielleicht gar keine Rente mehr“, klagt eine ältere Frau. Sie ist arbeitslos. „Wäre ich verschuldet, würde ich mich umbringen.“ Frau Pusch sagt: „Ihre Rente und die Ihres Mannes, das zusammen geht.“

Alle zwanzig Minuten, man kann fast die Uhr stellen, erklingt der Arztruf von Frau Pusch. Bis abends halb neun geht das so. Sie hat einen Schlüssel zu „ihren“ Rathäusern, damit sie nicht eingeschlossen wird. Eine einzige Pause hat sie sich in der ganzen Zeit gegönnt. Um auf die Toilette zu gehen.

Die Leute kommen, schütten ihr Herz aus und hinterlassen auf dem Tisch der Beraterin einen dicken Packen Unterlagen: Zeugnisse, Sozialversicherungsbücher, Arbeitsnachweise und ausgefüllte Formulare. Frau Pusch wirkt noch so frisch wie am Beginn der Sprechstunde. „Mir fällt das leicht“, sagt sie.

Waltraud Pusch stammt aus dem Westteil der Stadt und findet es „spannend“, im Osten zu arbeiten. Hüben wie drüben hat sie einen Grundsatz für ihre Arbeit: „Ich will für die Versicherten das Beste rausholen.“ Im Vierteljahr kommt sie auf gut und gerne 500 Versicherte. Kein Wunder, dass sie im Supermarkt oder auf der Straße „von Hinz und Kunz“ gegrüßt wird. Waltraud Pusch ist gerne ein bunter Hund.

„Ich blicke da nicht durch“, sagt eine Frau. „Aber ich“, antwortet Waltraud Pusch. „Warum muss ich das ausfüllen?“, fragt die Frau. „Müssen Sie nicht. Das mache ich für Sie“, sagt Waltraud Pusch.

Früher, da hat sie vor allem mit Unterlagen gekämpft, mit Aktenzeichen und Nummern, so wie die Mitarbeiter der Versicherungen, denen sie die Unterlagen schickt. Doch in Waltraud Puschs Sprechzimmer sitzen sie dann, die Versicherten, Menschen aus Fleisch und Blut, mit großen Sorgen und komplizierten Biografien. „Da kriegt man einiges mit“, sagt sie. „Jeder, der 60 ist, denkt, er hätte Anspruch auf Rente. Aber wer kein stetiges Arbeitsleben hat, hat es schwer. Das muss ich den Leuten dann sagen. Das ist schlimm.“ Und das sorgt manchmal auch für Frust – wegen Rentenklau und Riester-Rente. Frau Pusch reicht dann gerne eine Adresse weiter, die des ehemaligen Arbeitsministers.

Mit 40 Jahren hat sie selbst angefangen, sich über ihre Rente Gedanken zu machen und eine Lebensversicherung abgeschlossen. Sie fühlt sich privilegiert. „Damals war die Rente noch sicher, wie Blüm immer sagte. Jetzt läuft das nicht mehr so.“ Weil sie gut verdient hat und ihr Mann auch im öffentlichen Dienst war, hat sie ein gutes Auskommen. Ein besseres als die, die von 1.100 Euro Durchschnittsrente leben sollen. Das findet auch Waltraud Pusch „hart“.

Und doch sei sie „richtig zufrieden“, wenn sie abends von ihrer Sprechstunde nach Hause kommt. Sie isst mit ihrem Mann zu Abend, dann macht er ihr einen Espresso. Den braucht sie für den Rest der Arbeit. Sie muss die Unterlagen eintüten und beschriften, bevor sie sie bei der Versicherung abgibt. Das macht sie am Wohnzimmertisch, ihr Mann setzt dann die Kopfhörer auf und guckt leise fern, um nicht zu stören.

„Ich verdiene 1.500 netto und weiß nicht, was ich an Rente rauskriege“, sagt eine 57-jährige Frau. „Das ganze Leben spielt eine Rolle. Tausend Euro fiktive Rente sind Ihnen sicher“, schätzt Frau Pusch und vereinbart einen Termin.

Eigentlich könnte Waltraud Pusch ihre Rente genießen und die Hälfte des Jahres in Dänemark verbringen. Sie und ihr Mann haben dort einen Stellplatz auf einem Campingplatz. Doch solange sie schnell genug denken und rechnen kann, will sie die Beratungen weitermachen. Unbedingt. „Rente ist das Einzige, das ich kann“, sagt sie und lacht.

Nicht ein einziges Mal hat sie in all den Jahren eine Sprechstunde ausfallen lassen. „Ich kann die Versicherten doch nicht sitzen lassen“, sagt sie. „Die kommen von sonst wo und ich bin nicht da.“ Früher, als sie jünger war und unter Migräne litt, da hat sie Tabletten geschluckt und fertig.

Viele Menschen, die zu Waltraud Pusch kommen, sind überrascht. Von ihre Kompetenz, der Schnelligkeit, der Geduld und ihrer Begeisterung für ein Thema, das ihnen den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Sie wollen sich erkenntlich zeigen. Mit Blumen, Kaffee oder einer Flasche Wein. Geldgeschenke weist Waltraud Pusch zurück. Geld dürfen nur die Professionellen, die Rentenberater, nehmen. Deshalb darf sie sich nicht auch so nennen, sondern etwas sperrig Versichertenälteste.

Als Dank reichen ihr die Karten und Briefe, die ihr die Menschen schicken – zu Ostern und zu Weihnachten. Einen der ersten Briefe, von 1987, hat sie aufgehoben. „Ein Mensch wie Sie lässt mich wieder an Wunder glauben.“ Deshalb stellt sich Waltraud Pusch 2005 wieder zur Wahl. Für noch einmal sechs Jahre wird sie verunsicherten Versicherten zum Abschied wünschen: „Behalten Sie Ihren Job und bleiben Sie gesund.“