: Die Breslauer Herausforderung
Wenn man von Berlin überhaupt nach Osten geschaut hat, dann meist nach Warschau oder Moskau. Für die Zukunft der Stadt ist ein kulturelles und wirtschaftliches Netzwerk in der Oderregion aber näher liegend
VON UWE RADA
Dass der wahre Berliner in Breslau geboren ist, gehört inzwischen zu den Binsenweisheiten der Berlin-Nostalgie. Und war nicht der wichtigste der Berliner Bahnhöfe der Schlesische? Wurde der „Schnelle Breslauer“ seinem Namen nicht gerechter als der „Intercity“, der heute sechs Stunden braucht? Mit keiner anderen Stadt, so lautet die Botschaft solcher Sentimental Journeys, war Berlin einmal mehr verbunden als mit der Metropole am Mittellauf der Oder.
Nur: Warum so viel Retro, wo es genug an Gegenwart gibt. Auch heute kommen die Berliner wieder aus Breslau, auch wenn sie inzwischen Polnisch sprechen und sich die Stadt als Ort ihres Studiums ausgesucht haben. Auch in umgekehrter Richtung muss man nicht nur in die Vergangenheit schauen. Berlin in Breslau, das ist nicht nur die Architektur von Max Berg, Hans Poelzig, Erich Mendelsohn oder Hermann Dernburg. Berliner in Breslau, das sind auch die Studenten, Künstler und Geschichtssuchenden, die es in die 650.000 Einwohner zählende Stadt an der Oder zieht, weil sie wie keine andere für den kulturellen Aufbruch in Polen steht.
So gegenwärtig diese Beziehungen zwischen Berlin und Breslau wieder geworden sind, im Bewusstsein der Stadt, in ihrem öffentlichen Selbstgespräch sind sie bislang noch nicht verankert. Schaut man in Berlin überhaupt in Richtung Osten, dann zumeist über den Westen Polens hinweg nach Warschau oder Moskau. „Dabei liegen die wirtschaftlichen Potenziale der Stadt vor der Haustür, in Städten Stettin, Posen – und natürlich auch Breslau“, sagt der Stadt- und Regionalplaner Michael Stoll.
Stoll, der in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung für die Berliner Beziehungen nach Westpolen zuständig ist, sagt auch, warum: „Stettin, Posen und Breslau befinden sich in einem Umkreis von weniger als 300 Kilometer um Berlin, einer Entfernung, die für Geschäftsreisende ohne Übernachtung erreichbar ist.“ Darüber hinaus lebten in diesem Radius etwa 9 Millionen Menschen in Polen – „alles potenzielle Kunden und Touristen für Berlin“.
Doch nicht immer ist das Naheliegende auch das Einfache. Als der damalige Brandenburger Ministerpräsident Manfred Stolpe einen Plan für eine intensive deutsch-polnische Zusammenarbeit in der Grenzregion vorlegte, empörte man sich in Polen über den vermeintlichen „Stolpe-Plan“ zur Wiedereroberung der ehemals deutschen Gebiete. In Berlin wiederum hat man erst in den vergangenen Jahren zu begreifen begonnen, dass Berlin auch ein Teil der deutsch-polnischen Grenzregion ist und weniger eines europäischen Metropolen- und Hauptstadtnetzes.
Dennoch: An einer Intensivierung der Zusammenarbeit im Städtenetz zwischen Berlin, Breslau, Stettin, Posen, Dresden, Zielona Góra, Cottbus, Frankfurt (Oder), Görlitz und Gorzów Wielkopolski führt kein Weg vorbei. Das sieht man inzwischen auch in Brüssel so. Der scheidende EU-Regionalkommissar Michel Barnier lässt mittlerweile sogar prüfen, ob die „Oderregion“ im Sinne einer europäischen Planungsregion besonders förderfähig sei. Ganz in diesem Sinne haben Berlin und Brandenburg mit der Woiwodschaft Großpolen (mit Posen als Hauptstadt) bereits eine Planungsvereinbarung geschlossen. Eine weitere mit der Woiwodschaft Westpommern (Stettin) ist in Vorbereitung. Dies ist umso bemerkenswerter, als diese Vereinbarungen in Westpolen nicht selten gegen den erklärten Willen der Zentralregierung in Warschau zustande kamen und oft auch – wie in Stettin – gegen erhebliche Widerstände der Populisten.
Dass eine verstärkte Zusammenarbeit in einer Oderregion aber nicht nur eine Frage von Wirtschaft und Verkehr ist, gibt der polnische Publizist Adam Krzemiński zu bedenken. „Der Oderbund muss im Kopf ansetzen“, sagt Krzemiński, „muss eine Umstellung des Bewusstseins der einander nicht immer sympathischen Nachbarn bedeuten, und zwar so, dass sie sich aufeinander einstellen, dass sie ihre lokale Kultur- und Bildungspolitik aufeinander abstimmen.“ Vielleicht wird dann einmal, so Krzemińskis Hoffnung, „entlang der Grenze ein Raum einer tiefen, überlegten und funktionierenden Osmose geschaffen.“
Namentlich in diesen Belangen beginnt die „Breslauer Herausforderung“ für Berlin, heißt es, innere Widerstände zu überwinden und über die Grenze an der Oder hinweg in die Zukunft zu schauen. Breslauer Herausforderung, das bedeutet auch, Polnisch an den Schulen als Regelfach einzuführen, den Austausch von Autoren, Theaterleuten und Künstlern zu fördern, neue Städtepartnerschaften und Kooperationen zu knüpfen, nicht nur „Berliner Tage in Warschau“ zu veranstalten, sondern auch „Berliner Tage in Breslau“ sowie „Breslauer Tage in Berlin“. Europäische Regionen enststehen nicht nur auf der Landkarte der Planer, sondern auch in den Mental Maps ihrer Bewohner.
Wer mit dem Intercity zwischen Berlin und Breslau unterwegs ist, weiß, dass es eine solche Zukunft, eine Osmose, wie es Krzemiński nennt, geben kann. Anders als im Berlin-Warszawa-Express, dem Zug der Geschäftsleute, sind hier die Kulturschaffenden und Neugierigen unterwegs. Eine gemeinsame Sprache zu finden, fällt ihnen nicht schwer.
Wer dagegen den Politikern zuhört, weiß: Es ist noch ein weiter Weg.