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Archiv-Artikel

Der beste Entertainer

Wo das Drehbuch langweilig wird, dreht Johnny Depp voll auf: Seine Eskapaden, Improvisationen und Tics retten David Koepps Mystery-Thriller „Das geheime Fenster“ vor der Belanglosigkeit

VON ANDREAS BUSCHE

Auf den ersten Blick fällt es schwer, zwischen Herr und Hund zu unterscheiden. Widerborstige Haarbüschel fallen unkontrolliert ins Gesicht, der Rest steht spektakulär vom Kopf ab, als hätte die Frisur sich verselbstständigt. Mort Rainey ist gerade aufgestanden und trottet zu seinem Futternapf. Nein, stopp, das ist jetzt der Hund. Chico ist sein Name. Und wenn Chico nicht auf Fressen und Schlafen konditioniert wäre, müsste er sich über das Verhalten Morts wundern. Mort spricht mit sich selbst, schneidet Grimassen, bleibt den ganzen Tag im Bademantel oder hockt frustriert vor seinem Laptop, auf dem dieser eine, unheilvolle Satz zu lesen ist. Der erste Satz. Der einsamste Satz der Welt. Albtraum eines jeden Schriftstellers. Also besser doch wieder schlafen gehen. Herr und Hund sind wirklich ein perfektes Team. Bis Mort eines Nachts seinen Chico auf die Veranda genagelt vorfindet.

David Koepps neuer Film „Das geheime Fenster“, die Verfilmung eines Stephen-King-Romans, ist ein weiterer Höhepunkt in einer Reihe kongenialer Johnny-Depp-Performances. Sein Mort Rainey wirkt wie das logische Bindeglied zwischen Agent Sands aus Robert Rodriguez' „Irgendwo in Mexiko“ und dem Freibeuter Jack Sparrow aus Gore Verbinskis „Fluch der Karibik“. Es bereitet ein unbeschreibliches Vergnügen, sich auf Depps Spiel der Selbstmythifizierung einzulassen. In einer Szene rückt ein Buch Hunter S. Thompsons ins Bild, den Depp in Terry Gilliams „Fear and Loathing in Las Vegas“ darstellte. Ein anderes Mal beobachtet Rainey heimlich seine Exfrau Amy und ihren neuen Liebhaber. Sie kommen aus dem Haus, das er und Amy sich einst gekauft hatten, und er beginnt die Talking-Heads-Zeilen „This is not my beautiful house / this is not my beautiful wife“ zu singen. Solche Details bringt Depp in letzter Zeit häufiger in seine Rollen ein, was ihm unverkennbar einen Sonderstatus in einer an „Typen“ reichlich armen Filmepoche verleiht.

Das Bemerkenswerte an „Das geheime Fenster“ ist, wie rückhaltlos sich Depp auf seine Intuition verlassen kann, je haarsträubender die Drehbücher, mit denen er zu arbeiten hat, werden. Im Zweifelsfall rettet er alleine einen ganzen Film. In „Das Geheime Fenster“ steht ihm mit John Turturro allerdings ein ebenbürtiger Partner zur Seite. Eines Morgens taucht John Shooter, der sich als Milchfarmer aus Mississippi vorstellt, mit seinem großen schwarzen Hut an der Tür von Morts Seehütte auf und knallt ihm ein Manuskript auf die Schwelle: „Mr. Rainey“, schnarrt er mit breitem Südstaaten-Akzent, „Sie haben mir meine Geschichte gestohlen.“ Tatsächlich ist das Manuskript, das Shooter mitgebracht hat, identisch mit einer alten Kurzgeschichte namens „Das geheime Fenster“, die Rainey nach der Scheidung von seiner Frau geschrieben hat. „Das hier ist eine Sache zwischen ihnen und mir, Mr. Rainey.“ Später etwas weniger prosaisch: „Ich werde ihr Leben und jeden darin niederbrennen wie ein Kornfeld im Wind.“

Hat man die Grundidee des Drehbuchs erst einmal durchschaut, wozu es nach „Fight Club“ und Folgen keiner Viertelstunde bedarf, kann man sich ganz auf Depp und seine Eskapaden konzentrieren. Die Szenen, in denen die Vorgaben des Drehbuchs in eine freie Improvisation übergehen, gehören zu den einsamen Höhepunkten des Films. Im fortgeschrittenen Stadium des Wahnsinns beginnt Mort Rainey irgendwann, wie ein Psychopath mit seinem Unterkiefer zu knacken. Hier ein Schlag in den eigenen Nacken, dort ein unkontrolliertes Gesichtszucken. Sobald ihm langweilig wird, ist Depp sich selbst der beste Entertainer. Den Zuschauer entschädigt das für so manchen Quatsch.

Dank Depps uneitlen Kapriolen durchbricht „Das geheime Fenster“ schließlich die Konventionen des Mystery-Thrillers, die bereits in der Vorlage Kings angelegt sind. Wenn er am Ende wie Jack Nicholson in „Shining“ ums Haus schleicht, hat sich der Film längst von seinem Gefeierter-Autor-mit-Schreibblockage-verfällt-dem-Wahnsinn-Subtext gelöst. Zu diesem Zeitpunkt muss „Das geheime Fenster“ nur noch einem einzigen Zweck dienen: als Bühne für ein glänzendes Johnny-Depp-Solo. Mit Rumpelstilzchen-Pullover und Schoßhundfrisur im Zwiegespräch mit seinen inneren Dämonen.

„Das geheime Fenster“, Regie: David Koepp, mit Johnny Depp, John Turturro u. a., USA 2004, 104 Min.