: Damit ist viel Staat zu machen
Am 1. Mai ist es endlich so weit: Die EU wächst. Und zu den alten Problemen Europas kommen noch eine Menge neue hinzu. Eine Prognose über den Stand im Jahre 2014
Schon der alte Europäer Winston Churchill wusste: Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Nehmen wir zum Beispiel die künftige Erweiterung der Europäischen Union. Die pessimistische Einschätzung lautet, dass die Union mit der Osterweiterung an die Grenzen ihres Wachstums stößt und vorläufig keine neuen Mitglieder verkraften kann. Schon heute jedoch werden Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien geführt, die bis 2007 abgeschlossen sein sollen. Auch Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien-Montenegro und Mazedonien haben von der EU bereits einen Beitritt in Aussicht gestellt bekommen.
Geht also alles nach EU-Plan, dann wird es in wenigen Jahren eine zweite große Osterweiterung geben und die Zahl der Unionsmitglieder von 25 auf 31 weiter steigen. Läuft es noch besser, dann gerät das Jubiläum der Osterweiterung im Jahr 2014 vielleicht gar zu einer Randnotiz, weil die EU gerade im Begriff ist, die Türkei als 39. Mitglied der Union zu begrüßen.
Ebenso offen wie die Erweiterung der EU ist die Frage nach der Vertiefung der politischen Zusammenarbeit. Auch hier bieten sich zwei gegensätzliche Szenarien an. Das pessimistische Szenario nimmt an, dass sich die EU mit der Osterweiterung politisch überdehnt und institutionell stagniert. Das optimistische Szenario geht hingegen davon aus, dass die EU an den Herausforderungen der Osterweiterung weiter wachsen wird. Die Pessimisten sehen eine neue Ära des Stillstands und der „Eurosklerose“ heraufziehen, während die Optimisten auf den endgültigen Durchbruch zur staatlichen Einheit Europas spekulieren.
Die beiden Szenarien spiegeln jenen politischen Grundsatzkonflikt wider, der den europäischen Integrationsprozess von Beginn an begleitet hat. Diese Auseinandersetzung entzündet sich an der „Finalitätsfrage“ Europas und spaltet die Geister seit je in euroskeptische Antiföderalisten und föderalistische Europäer. Antiföderalisten stehen zwar der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa aufgeschlossen gegenüber, lehnen aber radikal ab, dass aus der Europäischen Union ein Staat wird. Föderalisten dagegen streben über die wirtschaftliche auch die politische Einigung Europas an und verfolgen damit ein Ziel, das letztlich auf die Gründung der einen oder anderen Form der „Vereinigten Staaten von Europa“ hinausläuft.
Die Osterweiterung hat den Streit um die Finalität Europas vorübergehend entschärft. Die Antiföderalisten befürworteten die Erweiterung in der Erwartung, dass die politische Integrationsdynamik in einer größeren und vielfältigeren Union erlahmt, so dass sich die EU langfristig eher in Richtung einer Freihandelszone entwickeln würde.
Die Föderalisten unterstützten die Erweiterung in der gegenteiligen Erwartung bahnbrechender institutioneller Reformen, die sich mit der Gewährleistung politischer Handlungsfähigkeit der EU rechtfertigen lassen würden. Mit dem endgültigen Vollzug der Osterweiterung ist dieser trügerische Konsens allerdings erschöpft. Die Zeichen der Zeit stehen also auf Konflikt.
Der erste Brennpunkt der neu entflammenden Debatte um Europas Zukunft wird die Volksabstimmung über die geplante EU-Verfassung in Großbritannien sein. Das britische Votum, das voraussichtlich im Jahr 2005 fällt, hat richtungsweisende Bedeutung. Es wird nicht nur über den Verfassungsentwurf selbst entscheiden, sondern damit auch über die längerfristigen Perspektiven der überstaatlichen Zusammenarbeit in der erweiterten EU.
Nehmen die britischen BürgerInnen die Verfassung an, erhält die föderalistische Entwicklung der EU einen nachhaltigen Schub. Dies, zumal die Integration auch in einem anderen zentralen Bereich absehbar ist, nämlich bei der Währungsunion. Alle zehn Beitrittsstaaten haben bereits mit den Vorbereitungen auf den Euro begonnen und wollen ihn so schnell wie möglich einführen. Da die Anzeichen bislang dafür sprechen, dass sie die Stabilitätskriterien fristgerecht erfüllen können, dürfte sich die Eurozone schon ab dem Jahr 2007 von 12 auf 22 Länder vergrößern. Ausgestattet mit gemeinsamer Verfassung und praktisch gemeinsamer Währung wäre die EU im Jubiläumsjahr 2014 dann kaum noch von einem Staat zu unterscheiden.
Allerdings ist alles andere als sicher, dass die EU-Verfassung die erforderliche demokratische Legimitation gewinnt. Außer Großbritannien haben bereits acht weitere EU-Mitgliedsstaaten einen Volksentscheid über die Verfassung angekündigt oder konkret in Aussicht gestellt. Nicht zuletzt auch Dänemark, wo bereits einschlägige Erfahrungen mit „antieuropäischen“ Mehrheiten gesammelt worden sind. So 1992 beim Nein zum Maastrichter EU-Vertrag oder zuletzt im Jahr 2000 bei der Ablehnung des Euro.
Britische oder dänische EU-Gegner mögen viele schwache Argumente gegen die Verfassung vorbringen. Aber sie haben auch einige sehr gute. Ihr stärkster und wichtigster Einwand gilt dem unbestreitbaren Demokratiedefizit der EU. Den Organen der Union mangelt es wahlweise an demokratischen Kontrollrechten (Parlament), demokratischer Verantwortlichkeit (Ministerrat) oder demokratischer Transparenz (Kommission). Und dem EU-System insgesamt fehlt es an Nähe zum demokratischen Souverän. Es gibt folglich durchaus noble Gründe, gegen die EU-Verfassung zu stimmen. Man kann die geplante Verfassung drehen und wenden, wie man will: Die EU ist und bleibt bis auf weiteres eine im Kern undemokratische Veranstaltung.
Die neue EU-Verfassung wird diese demokratische Systemkritik kaum mildern. Im Gegenteil, nach Ansicht ihrer Gegner macht sie das Demokratiedefizit sogar noch größer. Zum Beispiel durch die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat, obwohl dieser kein gewähltes Gremium ist. Oder durch die Einführung eines EU-Präsidenten und eines EU-Außenministers, beides neue Spitzenämter, die nicht durch demokratische Wahl besetzt werden sollen. Es gibt also durchaus noble Gründe, gegen die EU-Verfassung zu stimmen.
So viel Prognose sei dann schließlich doch gewagt: Angesichts der antiföderalistischen Grundstimmung in Großbritannien und Dänemark wird die EU-Verfassung scheitern. Zerbrechen wird die Union daran indes nicht. Vielmehr wird sie Zeit bekommen, damit in Ruhe zusammenwachsen kann, was zusammengehört.
Die erweiterte EU wird damit vorerst die alte bleiben. Ob sich daran bis 2014 etwas ändert, hängt auch und vor allem von den zehn Neumitgliedern ab. Denn gerade sie könnten bei der absehbaren „Verfassungskrise“ der EU zum Zünglein an der Waage im Streit zwischen europäischen Föderalisten und Antiföderalisten werden. Politisch haben es die Beitrittsstaaten daher letztlich selbst in der Hand, ob wir die EU beim Jubiläum am 1. Mai in zehn Jahren noch wiedererkennen werden.
CARSTEN SCHYMIK